Santino

Dies ist die Geschichte von Santino aus Berlin-Schöneweide, einem Säugling, der nur fünfeinhalb Monate alt wurde. Er starb am 20. November 2006, fünf Tage nachdem er misshandelt und schwer verletzt von seiner Mutter hinter den Vorderreifen eines parkenden Autos abgelegt wurde.

Santinos Mutter war eine normale Frau und kam aus einer normalen Familie – sie hatte jedoch schon früh begonnen, Cannabis zu rauchen. Später kamen härtere Drogen hinzu. Santinos Eltern lernten sich im Jahr 2004 in einem Obdachlosenheim für Alkohol- und Drogenabhängige kennen. Sie waren damals beide 20 Jahre alt. Zuerst lebten sie gemeinsam auf der Straße, bezogen dann wechselnde Wohnungen. Sie stritten sich häufig, die Beziehung war vom Alkohol – und Drogenrausch geprägt und zeitweise sogar dominiert. Ende 2005 stellen die beiden die Schwangerschaft fest. Die Mutter habe kühl und desinteressiert gewirkt, der Vater habe sich auf das Kind gefreut.

Am 1. Juni 2006 wurde Santino geboren. Bis in den September hinein hielten seine Eltern es noch aus, ihre Beziehung aufrecht zu erhalten, dann soll der Vater Santinos Mutter geschlagen und ihr angedroht haben, Santino etwas anzutun – sie verließ ihn. Sie kehrte mit ihrem Sohn zurück zu ihren Eltern. Diese halfen ihr eine neue Wohnung zu suchen und Gelder zu beantragen. Sie renovierten ihr das neue Zuhause, halfen beim Umzug. Die Adresse hielt sie vor dem Kindsvater geheim, aus Angst er könne sie aufsuchen und ihr und ihrem Sohn zu nahe kommen.

Was dann genau am 16. November 2006 passierte, wird nie ganz geklärt werden können. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Mutter Santino so massiv am Kopf verletzte (höchstwahrscheinlich durch Schläge), dass sie Angst bekam, er würde sterben und ihn unter das rechte Vorderrad eines parkenden Autos direkt vor ihrer Haustür ablegte.

Die Mutter selbst schilderte es anders. Sie sei am Vormittag mit ihrem Sohn im Kinderwagen beim Einkaufen gewesen und anschließend nach Hause zurückgekehrt. Dort habe sie Santino ausgezogen und zum Schlafen ins Bettchen gelegt. Sie selber sei zum Kinderwagen zurückgegangen, um die Einkäufe herein zu holen und habe dabei die Wohnungstür offen gelassen. Als sie die Wohnung wieder betrat, habe ihr Exfreund mit Santino im Arm in der Wohnung gestanden. Es kam zum Streit und der Vater habe mit seinem Sohn die Wohnung verlassen – dies habe sie zunächst gleichmütig hingenommen, dann sei ihr aufgefallen, dass Santino zu dünn gekleidet war und sie sei, ihrem Mutterinstinkt folgend, hinter ihrem Exfreund hergelaufen. Als sie jedoch aus der Haustür trat, habe sie Santino bereits schwer verletzt unter dem Auto liegen sehen. Dieser Anblick habe sie in solch einen Schrecken versetzt, dass sie weggelaufen sei.

Ab hier stimmten die Ermittlungen der Polizei und die Aussage der Mutter wieder überein. Bis zum nächsten Morgen fuhr sie ziellos mit der U-Bahn durch Berlin, während Ärzte versuchten, das Leben ihres fünf Monate alten Sohnes zu retten. Eine Spaziergängerin fand den Säugling unter besagtem Auto, kurz bevor der Besitzer losfahren wollte – er hätte Santino nicht sehen können und wäre über seinen Kopf gefahren. Der kleine Junge wimmerte, seine Fäustchen waren geballt und sein Blick flatterte, als die Frau ihn unter dem Reifen hervorzog. Er sei dort eingekeilt gewesen und sie musste sanfte Gewalt anwenden, um ihn befreien zu können. Santino war lediglich mit einem Strampler und einer Socke bekleidet gewesen. Die eintreffenden Rettungskräfte brachten ihn umgehend auf die Intensivstation. Er erlitt ein Schädelhirntrauma, sein rechter Unterarm war gebrochen, so auch diverse Wirbel und Rippen. Santino wurde intubiert und erhielt mehrere Operationen, die sein Leben retten sollten.

Währenddessen schrieb die Polizei seine Mutter zur Fahndung aus. Eingesetzte Spürhunde verfolgten Santinos Weg vom Auto bis direkt vor die Wohnungstür der Mutter zurück – den angeblich kurz zuvor benutzten Kinderwagen ließen sie völlig außer Acht. Sie sperrten die EC-Karte der Mutter und registrierten anhand dessen ihren Zugriff auf ihr Bankkonto am nächsten Morgen, den 17. November 2006. Als die Polizei in der Bankfiliale eintraf, fanden sie die Mutter ruhig und ausgeglichen vor. Sie wunderte sich, weshalb sie verhaftet werden sollte, gab an, keine Kinder zu haben. Sie war so emotionslos, dass die Polizisten dachten, die falsche Frau festgenommen zu haben. Doch die Klärung ihrer Personalien ergab, dass sie Santinos Mutter war.

Während sie in den nächsten Tagen bei den Verhören und Befragungen angab, unschuldig am Zustand ihres Sohnes zu sein, kämpften Ärzte und Santino selbst weiter um sein Leben.

Am 20. November 2006 wurde der kleine Junge für hirntot erklärt, die Ärzte schalteten die Geräte ab und Santino verstarb kurz danach.

Beisetzung:
Santino fand seine letzte Ruhe auf dem Sankt Laurentius-Friedhof in Berlin-Köpenick. Sein kleines Grab wurde liebevoll mit Blumen, Grablichtern und Teddys geschmückt.

Gerichtsurteil:
Im Prozess um das Geschehene wurde die Mutter im Dezember 2007 aufgrund einer Schizophrenie schuldunfähig gesprochen. Sie wurde jedoch zu einer Unterbringung in der Psychiatrie verurteilt. Ihre Verteidiger legten Revision ein und der Bundesgerichtshof gab ihnen Recht. Die Rolle des Kindsvater war in den Verhandlungen nicht genügend Gegenstand gewesen. In einer Neuauflage des Prozesses Anfang 2009 erhob die Mutter schwere Vorwürfe gegen ihren Exfreund und schilderte das Geschehen wie oben beschrieben. Im ersten Prozess hatte sie beharrlich geschwiegen, während der Kindsvater in beiden Prozessen die Nebenklage begleitete. Die Revision wurde im September 2009 abgelehnt, das erste Urteil blieb weiterhin rechtskräftig. Das Gericht sah den Vater zu keinem Zeitpunkt des Geschehens involviert.