Das ist die Geschichte eines Mädchens aus Hamburg-Osdorf. Sie wurde am 17. März 2007 heimlich zur Welt gebracht und nur 30 Minuten nach der Geburt von ihrer Mutter aus dem zehnten Stock eines Hochhauses geworfen. Den Sturz aus rund 25 Meter Höhe überlebte das Neugeborene nicht.
Im Hamburger Stadtteil Osdorf wurde in der Nachkriegszeit eine Hochaussiedlung errichtet. Die Plattenbausiedlung mit 5.000 Wohnungen gilt als sozialer Brennpunkt. Sie liegt isoliert am Stadtrand.
Die 26-jährige Mutter stammte aus Polen und war eine gläubige Katholikin. Sie begann eine Beziehung mit einem 23-jährigen Mazedonier. Er hielt sich illegal in Deutschland auf und war wegen Waffendelikten polizeibekannt. Die Liebe war jedoch einseitig. Der Vater bevorzugte es, seine Zeit mit Freunden in Spielhallen zu verbringen. Geld hatte er nie zur Verfügung, sondern bekam es von seiner Freundin. Sie verdiente sich etwas hinzu als Babysitterin und Haushälterin. Obwohl er ihr gegenüber auch gewalttätig wurde, redete sie sich ein, er sei der Mann ihrer Träume. Albaner seien eben so, bekam sie als Erklärung.
Die Aussagen der Eltern über die Kenntnis der Schwangerschaft waren widersprüchlich. Sie sagte aus, der Vater habe sie zur Abtreibung zwingen wollen. Anderenfalls werde er das Kind töten. Als sie im September 2006 zu ihren Eltern nach Polen fuhr und einen Frauenarzt aufsuchte, brachte sie es jedoch nicht übers Herz das Ungeborene zu töten. Die Mutter plante, das Kind notfalls allein großzuziehen. Bei ihrer Rückkehr verschwieg sie die nicht stattgefundene Abtreibung.
Der Vater hingegen behauptete, er habe von Anfang an nichts von der Schwangerschaft gewusst. Seine Freundin hatte er kaum gesehen, da er aufgrund ihrer starken Eifersucht seine Zeit lieber mit Freunden verbrachte. Als er sie auf den dicker werdenden Bauch ansprach, leugnete sie alles. Er hätte das Kind sonst zu seinen Eltern nach Mazedonien gebracht.
Vor allen anderen verbarg sie die Schwangerschaft. Ihre Mutter hätte sich über Enkelkinder sehr gefreut, doch sie wusste von der bestehenden Schwangerschaft ebenso wenig. In der Vergangenheit hatte sie ihrer Tochter gegenüber mehrmals betont, dass ihr Haus in Polen groß genug sei für viele Kinder. Geplant hatte die Mutter ursprünglich, ihr Baby in Polen zu gebären.
Die Frau einer Familie, bei der die Mutter als Babysitterin tätig war, bemerkte die Schwangerschaft und die Verzweiflung der Mutter. Zwar stritt sie auch hier alles ab, doch die Frau bot ihr dennoch Hilfe an und klärte sie über Hamburgs Babyklappen auf.
Den Geburtstermin hatte die Mutter selbst für Ende April berechnet. Allerdings bekam sie am 17. März 2007 unerwartete Schmerzen. Sie dachte zunächst nicht an Wehen. Als es schlimmer wurde, ging sie in die Wohnung ihres Onkels, der in einer Hochhaussiedlung am Stadtrand lebte. Über der Toilette brachte sie ohne Hilfe ihr Kind zur Welt. Ein kerngesundes Mädchen mit 51 cm und 3.150 Gramm. Mit einer Schere durchtrennte sie die Nabelschnur und wickelte ihre Tochter in ein Handtuch. Im ersten Moment war sie erfreut, dass das Mädchen lebend zur Welt kam und war gerade dabei ein Taxi zum Krankenhaus zu rufen. Dann begann das Baby zu röcheln. Laut Aussage der Mutter stand sie deshalb unter Schock und legte den Hörer wieder auf. Ungefähr eine halbe Stunde nach der Geburt steckte sie das neugeborene Mädchen in eine schwarz-weiß karierte Tüte von New Yorker und warf ihre Tochter über den Balkon aus dem zehnten Stock. Hinterher geschaut hatte sie nicht. Das Baby fiel etwa 25 Meter in die Tiefe und landete auf der Grünfläche vor dem Hochhauskomplex.
Beim Aufprall wurde der Schädel des Babys zertrümmert, das Hirn erlitt schwerste Verletzungen und die Lungen wurden zerquetscht. Das linke Füßchen ragte aus der Tüte heraus und das linke Händchen wurde abgeknickt. Das kleine Herz schlug noch einen Moment, doch nach einigen Atemzügen erlag das Mädchen seinen schweren Verletzungen.
Das Baby wurde wenig später von einem Mann entdeckt, der mit seinem Hund spazieren ging. Er alarmierte umgehend die Polizei. Die Mordkommission nahm die Ermittlungen auf und sicherte zunächst die Spuren am Fundort der Leiche. Anschließend wurden Durchsuchungsbeschlüsse für rund 130 Wohnungen aus der 20-stöckigen Hochhaussiedlung erwirkt. Mehr als 200 Polizisten befragten die Bewohner und nahmen Speichelproben von Frauen, die als Mutter in Frage kommen konnten. Die Beamten stießen – anders als erwartet – auf große Kooperationsbereitschaft. Ein Schlüsseldienst verschaffte Zutritt zu jenen Wohnungen, deren Türen nicht geöffnet wurden. Die Überprüfung brachte jedoch keine näheren Hinweise.
Die Obduktion ergab, dass das Mädchen an den Sturzverletzungen starb und mindestens aus dem siebten Stock geworfen wurde. Die Tat musste unmittelbar nach der Geburt stattgefunden haben, da sich die Nabelschnur noch am Leichnam befand. Diese war ein wichtiges Beweisstück, da sich in ihr das Blut der Mutter befand. Somit konnte ein genetischer Fingerabdruck erstellt werden.
Beisetzung
Am Tatort wurden Blumen, Stofftiere und Kerzen niedergelegt. Auf einen Zettel hatten Kinder geschrieben:
„Wir geben dir den Namen Laura Stern“.
Quelle: Kölner Stadt-Anzeiger, 22.03.2007
In der Maria-Magdalena Kirche in Hamburg-Osdorf fand am 22. März 2007 ein bewegender Trauergottesdienst statt. Etwa 300 Menschen nahmen Abschied von dem namenlosen Mädchen. Es wurden viele Kerzen angezündet und Steine niedergelegt.
„Wut und Trauer wiegen schwer wie ein Stein“, sagte eine Pastorin.
Quelle: Aachener Zeitung, 23.03.2007
Über die Beerdigung liegen uns leider keine Informationen vor.
Gerichtsurteil
Am 20. März 2007 vertraute sich die Mutter einer Freundin an. Diese konnte sie überreden, sich bei der Polizei zu melden. Allerdings machte sie dort zunächst eine Falschaussage. Während der Vernehmung gab sie an, der Vater habe das Baby aus dem zehnten Stock geworfen. Daraufhin sei sie geflüchtet und hatte keinerlei Kontakt mehr zu ihm. Aufgrund dieser Aussage wurde deutschlandweit nach dem Vater gefahndet.
Die Mutter verstrickte sich allerdings schnell in Widersprüche. Außerdem lagen die ersten Zeugenaussagen und Ermittlungsergebnisse vor. Die Fahndung nach dem Vater wurde bereits am darauffolgenden Tag eingestellt und stattdessen ein Haftbefehl wegen Totschlags gegen die Mutter beantragt. Sie kam in Untersuchungshaft, da Fluchtgefahr bestand.
Der Vater stellte sich im Beisein seines Anwaltes am 21. März 2007 der Polizei. Er war kein Tatverdächtiger mehr und wurde lediglich als wichtiger Zeuge vernommen.
Anfang September 2007 begann der Prozess vor dem Hamburger Landgericht. Die Mutter zitterte am ersten Verhandlungstag und wirkte völlig apathisch. Ihre Augen waren aufgequollen vom vielen Weinen. Vor Gericht legte sie ein Geständnis ab.
An den darauffolgenden Verhandlungstagen sagten mehrere Zeugen aus. Unter anderem eine Freundin, die von der Mutter erzählt bekam, sie hatte ihr Kind tot geboren. Von der Schwangerschaft hatte die Freundin nichts gewusst. Die Mutter bat sie, an ihrer Stelle eine Speichelprobe bei der Polizei abzugeben.
Der Vater trat als Nebenkläger auf und wollte seine Unschuld beweisen. Die Blicke der Eltern trafen sich nur sehr selten.
Ein psychologisches Gutachten bescheinigte der Mutter eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit zur Tatzeit. Da der Vater sie immer ablehnte und sie sich emotional nicht von ihm lösen konnte, entwickelte sie eine Bewusstseinsstörung. Verstärkt wurde diese durch das Verleugnen der Schwangerschaft. Als die Wehen schließlich völlig unerwartet einsetzten, kam es zu einer akuten Belastungsreaktion.
Am Tag der Urteilsverkündung wirkte die Mutter ruhig. Ihre Strafe sah sie als Katholikin wie eine „Selbstreinigung“. Das Gericht war überzeugt, dass sie tiefe Reue empfand. Die Mutter sagte während der Verhandlung:
„Ich habe selbst das kleine Glück in meinem Leben zerstört. Für meine Tat gibt es keine Entschuldigung“.
Quelle: C.H.Beck
Die Mutter wurde wegen Totschlags in einem minder schweren Fall und wegen falscher Verdächtigung zu einer Haftstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt.
Bereits vor dem Prozess wurde der Mutter Hilfe angeboten vom „Projekt Findelbaby“. Man wollte sie bei der Anwaltssuche unterstützen und ihr beim Verarbeiten der Trauer helfen. Denn Frauen, die ihre Schwangerschaft verdrängt hatten, befinden sich nach der Geburt in einer Notlage. In einer Panikreaktion kann es dann passieren, dass das Kind ausgesetzt oder getötet wird.
„Umso wichtiger ist es, diesen Müttern frühzeitig zu helfen. Wir verurteilen die Frauen nicht, sondern reichen ihnen die Hand und hören zu“.
Quelle: Frankfurter Allgemeine, 22.03.2007