Marie

Marie musste jahrelang Leid und Schmerz erfahren und ertragen. Obwohl viele Menschen von ihrer Not wussten, kam niemand um ihr zu helfen.

Später wollte man ihr einreden, dass das doch alles gar nicht so schlimm gewesen wäre und sie vergessen sollte, was geschehen ist. Und selbst als Marie mir ihre Geschichte erzählte, entschuldigte sie sich am Ende dafür, weil ihrer Meinung nach andere Kinder doch noch viel schlimmeres erlebt haben. Doch weil Marie überlebt hat, ist ihre Geschichte nicht weniger schockierend und weniger wert, darüber zu berichten. Es sollte mehr Menschen wie Marie geben. Mehr Menschen, die erzählen, dass das alles sehr wohl sehr schlimm gewesen ist.

Marie hat es geschafft, ins Leben zurückzufinden. Sie hat trotz allem das Vertrauen in die Menschen nicht verloren. Sie hat einem Mann an ihrer Seite und ist inzwischen selbst Mama. Sie hat einen Halt, in den Momenten, in denen die Vergangenheit sie wieder einholt. Sie wird damit leben und nicht vergessen, aber sie wird auch kämpfen für das was ihr zusteht. Ein glückliches Leben.

Wir danken Dir Marie für Dein Vertrauen und wir bewundern Dich für Deine Kraft.

Das ist Maries Geschichte. Sie hat überlebt.

Marie schrieb:
Hallo! Ich möchte Ihnen erstmal den größten Respekt zu kommen lassen, dass Sie diese Seite und auch Homepage ins Leben gerufen haben und mit soviel Herzblut daran arbeiten. Ich hab lange überlegt, ob ich mit meiner Geschichte überhaupt darein passen würde, schließlich ist das alles schon Jahre her und ich habe überlebt. Ob so etwas verjährt? Aber vielleicht glaubt man mir nicht und die Geschichte ist vielleicht nicht wichtig? Ich kenne diese Antworten alle nicht. Ich weiß nicht, ob meine Geschichte schlimm genug ist (die Geschichten die ich dort gelesen habe auf Ihrer Homepage treiben mir die Tränen in die Augen, diese armen kleinen Seelen hab das nicht verdient!).

Aber ich werde Ihnen trotzdem auch meine Geschichte erzählen. Vor allem, weil ich nicht weiß, ob es zum Beispiel Sinn machen würde, im Nachhinein noch meine Eltern anzuzeigen.

Meine Mutter hat mich von Tag eins nicht angenommen, mich seit meinem 6 Lebensmonat hungern lassen. Mit 2 Jahren fing es an, dass mein Vater immer zuschlug. Ins Gesicht, in den Nacken, auf den Rücken. Meine Mutter stachelte ihn weiter an. Meine Mutter spielte psychische Spielchen mit mir, schrie mich an, schlug mich, setzte mich aus, als ich 3 Jahre alt war. Niemand aus der Familie wollte mich aufnehmen. Ich wurde zwischen Bekannten der Familie, die ich nicht kannte, rumgereicht. Niemand wollte mich. Meine Mutter holte mich wieder, schlug mich, sperrte mich ein.

Mit 6 war ich ihr Sklave, musste von morgens bis Abends putzen und für sie kochen (wenn mal was zu essen da war). Ich stand auf der Liste der wichtigen Dinge an letzter Stelle, wenn überhaupt. Wenn ich nach der Schule, nach Hause kam, schrie sie mich an, schlug mir ins Gesicht, verprügelte mich und ließ mich immer wieder wissen ich sei der letzte Dreck, behindert, das Schlimmste, was einem passieren kann. Ich wurde genötigt, ihr beim Sex mit täglich wechselnden Partnern zuzuschauen. Für jede Nichtigkeit gab es extremen Ärger. Essensentzug, Einsperren. Wenige Strafen, die es nicht gab. Einmal wurde ich unter die Dusche gestellt, festgehalten und mit dem Duschkopf hat man mir eine gefühlte Ewigkeit die Möglichkeit zum Atmen genommen.

Mit 8 Jahren wollte ich mich umbringen, hatte aber nicht den Mut. Mutters Spielchen änderten sich, sie drohte inzwischen sich umzubringen wegen mir, wenn ich „böse“ war. Hatte ich in der Schule eine schlechte Note, wurde ich mit Schulbüchern verprügelt. Sie versuchte sich immer wieder umzubringen, schuld war wie immer ich. Es wurde immer schlimmer. Die Strafen wurden härter, immer weniger essen, immer mehr Sklave sein. Schläge bekommen. In der Schule wussten die Lehrer Bescheid, aber sie glaubten mir nicht. Nachbarn wussten Bescheid, aber sie wollten damit nichts zu tun haben.

Mit 13 tat ich mir was an, um zu sterben. Ich kam in die Klinik und endlich weg von meiner Mutter. Mein Vater war zu der Zeit aggressiv wie nie. Mitten in der Stadt verprügelte er mich, bedrohte mich mir etwas zu tun. Ich wurde vom Jugendamt ins Heim gesteckt, weit weg von meiner Mutter. Sie zog mir immer wieder hinterher. Inzwischen bin ich fast 20, hab eine wundervolle Tochter und einen guten Mann und wohne 600 km weit weg von meiner Mutter. Sie versucht alles, um mich zu finden. Ich denke, dass alles hört erst auf, wenn sie tot ist. Dann kann ich endlich in Frieden leben. Therapien muss ich bis heute machen, die ganzen Strafen haben mich zerstört.

Magersucht, Depressionen und Borderline sind das Geschenk was meine Mutter mir für mein Leben mitgeben hat.

Es tut mir leid, Sie mit meiner Geschichte gelangweilt zu haben, doch es war mir wichtig, mich einmal mitzuteilen. Zu zeigen, dass Menschen die (durchaus noch viel schlimmere Sachen als ich erleben) sowas überleben, später ein Leben führen können, auch wenn es von Qual, Angst und Zerstörung gezeichnet ist.

Vielen Dank das es Ihre Seite gibt, die kleinen Seelen würden das bestimmt gut finden !
Lg, Marie

Daniela schrieb:
Liebe Marie, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Es tut mir so unendlich leid für all das, was Du erleben musstest und ich bringe Dir ebenfalls meinen vollsten Respekt dafür entgegen, dass Du mir Deine Geschichte erzählt hast. Ich denke oft daran, wie Kinder, welche solche körperlichen sowie seelischen Qualen erlebt und überlebt haben, dies überhaupt jemals in irgendeiner Art und Weise verarbeiten und bewältigen können. Und auch wenn gesetzlich vielleicht solche Taten irgendwann verjährt sind, werden sie doch die Kinder ein Leben lang begleiten. Es ist erschreckend zu lesen, dass niemand bereit war, Dir damals zu helfen. All diese Menschen tragen ebenfalls Schuld an dem, was Du erleiden musstest. Und sei Dir gewiss, auch die Geschichten von Kindern die überlebt haben, werden ihren Platz auf schutzlos-wehrlos finden.

Wie kommst Du bloß darauf, dass Du mich mit Deiner Geschichte langweilst? Weil Du überlebt hast? Deine Geschichte ist nicht weniger schlimm als all die anderen, nur das bei Deiner Geschichte am Ende steht „Sie hat überlebt“.

Viel mehr Menschen wie Du müssten ihre Geschichten erzählen. Denn meistens wird nur über die Geschichten berichtet, bei denen jede Hilfe zu spät kam.

Ich freue mich sehr darüber, dass Du trotz Deiner Vergangenheit gelernt hast, einen Mann zu vertrauen und zu lieben und auch eine Familie zu gründen. Diese Kraft überhaupt wieder ins Leben zu finden und daran zu glauben, vor allem wieder anderen Menschen zu vertrauen, bewundere ich.

Wenn Du einverstanden bist, würde ich Deine Geschichte gerne ebenfalls veröffentlichen. Vielleicht kannst Du der Anstoß sein, dass sich mehr Menschen öffnen und erzählen, was sie erlebt haben. Denn genau das ist so unsagbar wichtig, um andere Kinder zu schützen.

Und glaub mir, wäre ich damals Deine Nachbarin, ein Familienmitglied oder eine Lehrerin gewesen, bei mir hättest Du Hilfe und Schutz gefunden.
GLG, Daniela

Marie schrieb:
Hallo Daniela, ich freue mich sehr über deine Worte. So etwas zu lesen tut gut. Oft hat man mir eingeredet, es sei nicht schlimm, ich solle es „vergessen“. Manchmal frage ich mich, ob die Menschen Recht haben, wenn sie sagen, es sei nicht „schlimm“. Aber dann denke ich mir, wie sehr ich mir (auch jetzt noch) Eltern gewünscht habe. Viel haben die beiden mir kaputt gemacht. Der Hass ist längst verflogen, sie sind mir gleichgültig.

Natürlich darfst du meine Geschichte benutzen. Angefangen hat es 1994 und zu Ende gegangen ist es Ende des Jahres 2006.

Ich nehme es den Menschen nicht übel, im Gegenteil. Sie hatten Angst oder kein Glauben in mich. Heute sehen sie mich und haben Respekt. Ich lasse sie im Glauben, es wäre einfach, aber das ist es ganz und gar nicht. Ich werde mein Leben lang kämpfen müssen um zu leben. Ich bin wirklich gerührt, dass jemand meine Geschichte, die jahrelang von allen Leuten zwar gehört, aber geleugnet wurde, nun wichtig ist. Sie wissen gar nicht, wie geehrt ich mich fühle. Lieben lieben Dank dafür !

Daniela schrieb:
Hallo Marie. Menschen, die sagen Du sollst es vergessen und es sei nicht schlimm, wollen meistens ihr Gewissen beruhigen. Entweder kommen sie mit Deiner Geschichte nicht zurecht oder haben Dir damals nicht geholfen und versuchen dann auf diese Art, die geschehenen Dinge zu verharmlosen. Ich finde es sehr beachtlich, dass Du es geschafft hast, den Menschen, welche Dir nicht geholfen haben, dies nicht übel zu nehmen. Am Ende würde es einen auch nur selbst kaputt machen, dass was passiert ist, kann man auch nicht mehr rückgängig machen und ich hoffe inständig, dass diese Menschen heute anders handeln würden.

Wenn über Eltern gesprochen wird, meinen die meisten Menschen, die Mutter, die geboren und den Vater, der gezeugt hat. Für mich sind Eltern die Menschen, bei denen man Schutz, Liebe und Sicherheit erfährt, egal ob leiblich oder nicht. Dein Kind wird einmal solche Eltern haben und Du kannst so stolz auf Dich sein, dass Du nach all Deinen Erfahrungen jetzt an diesem Punkt angekommen bist, wo Du eine liebende Mutter sein kannst. Im Gegensatz zu Deiner Mutter.

Hast Du eigentlich einmal die Menschen, die Dir nicht geholfen haben wie z.B. Erzieherinnen im Kindergarten oder Lehrer in der Schule gefragt, warum sie Dir nicht halfen? Warum hat ein Arzt nie etwas gesagt oder wurdest Du nie von einem Arzt untersucht? Obwohl Ärzte ja auch heute noch keine großen Handlungsmöglichkeiten haben.
GLG, Daniela

Marie schrieb:
Hallo Daniela !
Oh, natürlich habe ich das. Aber meine Mutter hat den Leuten immer erzählt, ich wäre eine Lügnerin, ich hätte Probleme mit der Trennung meiner Eltern. Es gab immer tausend Gründe. Ein Fall ist mir noch sehr in Erinnerung. Ich war immer ein kleiner Spätzünder, ich konnte früh sprechen, früh laufen, war die Erste, die im Kindergarten lesen und schreiben konnte, aber Fahrrad fahren, das fand ich doof. Ich konnte kein Gleichgewicht halten. Mein Vater versuchte es mir beizubringen, ich kippte immer wieder um, meine Knie waren offen. Statt Trost wurde ich bestraft, man drohte mir, mich mit Ketten festzuketten. Ich war wieder die Behinderte, man wünschte, man hätte mich abgetrieben. Ich hab das meiner Lehrerin erzählt (war in der 1ten Klasse). Sie konfrontierte meine Eltern, aber die erfanden eine neue Geschichte. Am nächsten Tag beachtete meine Lehrerin mich nicht mehr, ich war der Sündenbock. Wie immer. Das Jugendamt glaubte meiner Mutter alle ihrer Geschichten. Ich musste für sie lügen.

Als ich ins Heim kam, sah ich sie nochmal und sie versuchte mir zu erklären, dass sie sich geändert hat und das ich zurück kommen soll. Sie würde ja so sonst ihre Wohnung vom Amt nicht mehr bezahlt bekommen und auch kein Kindergeld mehr beziehen. Sie hatte doch so ein tolles Leben auf meine Kosten, das wollte sie nicht verlieren. Glaub mir, wenn ich mein Leben ändern könnte, würde ich alles außer meiner Tochter ändern.

Ich hab in meiner Jugend, die ich im Heim verbrachte viel Mist gebaut, ich konnte über all das nicht hinweg kommen. Ich rutsche fast in die Drogenabhängigkeit. Ich fand mein Weg aber früh genug, um alles zu ändern. Mein Leben ist im Moment noch nicht einfach, aber hey, wir Frauen sind starke Geschöpfe, die sich nicht unterkriegen lassen.
Lg Marie