Marco

Dies ist die Geschichte von Marco aus Lübeck. Am 26. Mai 2008 wurde er im Alter von acht Jahren von seiner Mutter in der Badewanne ertränkt.

Marcos Leben war geprägt von der Vergangenheit seiner Mutter. Ihr Vater war Alkoholiker und verprügelte oft seine Frau und die vier Söhne. Sie und ihre jüngere Schwester blieben verschont. Allerdings wurde Marcos Mutter mit zehn Jahren von einem Nachbarn missbraucht und danach regelmäßig von dreien ihrer Brüder. Mit elf Jahren verfiel sie dem Alkohol und zog mit achtzehn Jahren schließlich aus, obwohl sie das Abitur noch nicht beendet hatte.

Nach der Schule ging sie auf Weltreise und schlug sich als Tagelöhnerin durch. Alkohol und Marihuana waren ihr ständiger Begleiter. Auch zurück in Deutschland schaffte sie es nicht, ein berufliches Standbein aufzubauen. Erst mit sechsundzwanzig begann sie ein Studium der Ernährungswissenschaften. Trotz eines Aufenthalts in der Psychiatrie erhielt sie für ihr Diplom die Bestnote. Mittlerweile war sie auch Mitglied der Anonymen Alkoholiker.

Auf einer Silvesterparty lernte sie schließlich Marcos Vater kennen und wurde von ihm schwanger. Doch schon kurze Zeit, nachdem sie sich kennengelernt hatten, erzählte er genervt von seinem bereits vorhandenen unehelichen Kind und verlangte von ihr, Marco abzutreiben. Obwohl Kindsvater und Freundinnen ihr dringend abrieten, entschied sie sich, Marco zu behalten und ihn allein groß zu ziehen.

Insgesamt schaffte sie es zehn Jahre lang, ihren Lebensweg ohne Alkohol zu gehen. Doch als Marco zweieinhalb Jahre alt war, fühlte sie sich zunehmend überfordert und begann wieder zu trinken. Sie verlor ihren Arbeitsplatz und kämpfte mit Selbstmordgedanken. Es folgte eine psychiatrische Behandlung.

Marco war fünf Jahre alt, als seine Mutter mit ihm nach Lübeck zog. Es sollte für alle ein Neuanfang werden. Sie wagte mit einem Franchise-Partner den Schritt in die Selbstständigkeit und eröffnete als Ernährungsberaterin eine eigene Praxis. Schnell merkte sie jedoch, dass ihr der Spagat zwischen Familie und Job nicht gelang.

Entweder Marco oder die Praxis blieben auf der Strecke. Statt nach einer Lösung zu suchen, ertrank sie ihren Kummer abermals in Alkohol. Nach drei Jahren half der 45-jährigen Mutter jedoch auch der Alkohol nicht mehr. Mit der Selbstständigkeit scheiterte sie und musste Ende April 2008 mit 100.000 Euro Schulden den Insolvenzantrag vorbereiten.

Ihre Welt zerbrach. Sie wusste keinen Ausweg mehr und entschied, sich das Leben zu nehmen. Auch ein Aufenthalt in der Psychiatrie änderte nichts daran. Sie ließ sich einweisen und brachte Marco währenddessen zu einer guten Freundin, die selbst zwei Kinder hatte. Allerdings entließ sie sich nach wenigen Tagen selbst. Die Mutter bat ihre Freundin, Marco zu sich zu nehmen, wenn ihr etwas zustoßen sollte. Ihre Freundin wusste jedoch von den Suizidgedanken und versuchte, an ihre Mutterliebe zu appellieren. Dass sie nicht noch für ein drittes Kind sorgen könne und sie doch sicherlich nicht wolle, dass Marco ins Heim müsse. Also beschloss die Mutter, Marco bei sich zu behalten.

Am Montag, den 26. Mai 2008 versprach sie ihrem inzwischen 8-jährigen Sohn sein Lieblingsessen. Er bekam Pizza und Cola. In sein Getränk rührte sie Schlaftabletten. So viele, dass er nicht erbrechen müsse, sondern in einen tiefen Schlaf fallen sollte. Marco beschwerte sich über den sonderbaren Geschmack, trank das Glas jedoch auf Drängen seiner Mutter leer.

Nach dem Essen saß Marco mit seiner Mutter Arm in Arm vor dem Fernseher und schaute Kinderkanal. Als er müde wurde, brachte ihn seine Mutter ins Bett und legte sich wie jeden Abend neben ihn. Marco ahnte nicht, was seine Mutter vor hatte und war der Situation hilflos ausgeliefert. Als er schlief, drückte sie ein Sofakissen auf sein Gesicht mit der Absicht, ihn zu ersticken. Marco wurde allerdings wach, drückte das Kissen beiseite und schlief friedlich weiter.

Da der Tötungsversuch misslang, füllte die Mutter nun die Badewanne. Sie trug Marco ins Badezimmer, legte ihn in die Wanne und drückte ihn an den Schultern unter Wasser. Marco wurde sofort wieder wach und wehrte sich heftig. Völlig verzweifelt strampelte er mit Armen und Beinen. Seine Mutter hielt ihn jedoch fest unter Wasser und hatte ihm gegen Ende seines Todeskampfes zusätzlich noch den Hals zugedrückt. Ob Marco sie währenddessen angesehen hatte, wusste sie nicht, da sie die Augen bei der Tat verschloss. Sie ließ ihn erst los, als er sich nicht mehr bewegte und reglos im Wasser lag.

Anschließend wollte sich die Mutter selbst töten. Sie besaß 100 Schlaf- und Schmerztabletten, die sie einnehmen wollte. Nach ca. 40 Tabletten verlor sie jedoch das Bewusstsein und schaffte es nicht mehr, sich die bereitgelegte Plastiktüte über den Kopf zu ziehen, die ihr die Luft zum Atmen nehmen sollte.

Noch am gleichen Abend alarmierte eine Freundin der Mutter den Notruf. Sie wusste von den Selbstmordgedanken und hatte große Angst um Marco. Die Polizei bat allerdings nur darum, dass sie doch selbst die Wohnung aufsuchen solle. Die Beamten selbst wurden nicht weiter tätig. Marco hätte eventuell gerettet werden können.

Erst als eine weitere Freundin am nächsten Morgen ebenfalls die Polizei alarmierte, weil Marco nicht zum Unterricht erschien, verschafften sich die Polizisten mithilfe der Feuerwehr Zutritt zur Wohnung. Marco wurde tot in der Badewanne gefunden, die Mutter bewusstlos auf dem Sofa. Sie wurde in ein Krankenhaus gebracht, wo ihr Zustand schnell stabilisiert wurde. Da sie jedoch nicht vernommen werden konnte, sollte zunächst die Rechtsmedizin klären, ob der Tod von Marco ein Unfall war.

Über die Beerdigung liegen uns leider keine Informationen vor.

Marcos Mitschüler wurden von Seelsorgern und Psychologen betreut. Sie stellten zum Gedenken eine Kerze auf seinen Tisch.

Gerichtsurteil
Zwei Tage nach der Tat hatte die Mutter ihre schreckliche Tat vollumfänglich gestanden. Ihre Aussagen stimmten mit dem Obduktionsergebnis überein.

Die Mutter wurde in eine Fachklinik eingewiesen und die Staatsanwaltschaft beantragte einen Haftbefehl wegen Verdachts des Mordes. Nach der psychologischen Untersuchung plädierte die Anklage dann jedoch auf Totschlag und forderte eine neunjährige Haftstrafe.

Das psychiatrische Gutachten bescheinigte der Mutter eine narzisstische Persönlichkeitsstörung und eine bedingte Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt. Sie sei auch weiterhin selbstmordgefährdet.

Die Verteidigung versuchte daher eine Verurteilung wegen Totschlags in einem minderschweren Fall zu erreichen. Die Haftdauer beträgt hier zwischen sechs Monaten und fünf Jahren. Der Anwalt der Mutter äußerte vor Gericht, dass der Verlust ihres Sohnes bereits die schlimmste Strafe sei.

Verurteilt wurde sie schließlich wegen Totschlags zu sieben Jahren Gefängnis. Die geringe Haftstrafe begründete der Richter mit der tief empfundenen und spürbaren Reue der Mutter und der verminderten Schuldfähigkeit.

Da jedoch sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung Revision einlegten, war das Urteil noch nicht rechtskräftig. Über den Ausgang des Revisionsverfahrens liegen uns keine weiteren Informationen vor.

Es gab zudem ein Ermittlungsverfahren wegen unterlassener Hilfeleistung gegen die Beamtin, die trotz des Notrufes der Freundin am Abend der Tat nichts weiter unternommen hatte. Sie gab lediglich den Rat, doch bitte selbst die Wohnung aufzusuchen. Der Ausgang des Verfahrens ist uns jedoch nicht bekannt.