Marcel

Dies ist die Geschichte vom neunjährigen Marcel, geboren im April 2001, aus Mannheim. Marcel litt an einer unheilbaren Erberkrankung und musste verhungern, weil ihn seine Mutter von „seinem Leid erlösen“ wollte. Er starb am 29. Mai 2010.

Marcel war eins von drei Kindern und lebte mit seinen Geschwistern, seiner alleinerziehenden Mutter und deren neuen Lebensgefährten, einem Drogendealer zusammen. Dieser war zudem arbeitslos und alkoholabhängig. Der leibliche Vater der Kinder kümmerte sich nicht um diese. Die Familie wurde seit 2001 vom Jugendamt betreut und lebte von Sozialhilfe.

Im Frühjahr 2008 wurde bei Marcel, der nun sieben Jahre alt war, eine Erbkrankheit diagnostiziert, deren Lebenserwartung maximal drei Jahre betrug und einen rapiden neurologischen Verfall zur Folge hatte. Im Herbst 2009 konnte Marcel bereits nicht mehr laufen, da sich seine Knochen verformt hatten. Er erblindete, wurde taub und musste fortan gewickelt, gewaschen und gefüttert werden. Als er nicht mehr selbstständig schlucken konnte, wurde er durch eine Sonde ernährt, die seine Mutter regelmäßig wechselte. Ende 2009 konnte Marcel nicht mehr sprechen. Er war ein hilfloser Pflegefall.

Dem Jugendamt war bekannt, dass die Eltern drogen- und alkoholabhängig waren. Ebenso, dass es Probleme bei der Versorgung und Pflege der Kinder gab. Marcels Mutter war sichtlich überfordert mit der gesamten Situation, wollte aber trotz allem ihren schwer kranken Sohn zuhause pflegen und konnte dies auch vor den Ämtern durchsetzen. Jegliche Hilfe seitens der eigenen Familie als auch von der Familienhilfe lehnte sie ab.

Doch schon im Januar 2010 war Marcels Mutter so sehr überfordert, dass sie ihm keine Sonde mehr zur Nahrungsaufnahme legte. Sie wollte ihn sterben lassen, um ihn von seinem Leid zu erlösen. Niemand durfte Marcel sehen, nur seine Mutter ging zu ihm ins abgedunkelte Zimmer, aus dem sie oftmals erst Stunden später sichtlich gezeichnet heraus kam. Sie sprach mit niemandem über den besorgniserregenden Zustand ihres Sohnes.

Am 09. April 2010 verschaffte sich ein Amtsarzt des Mannheimer Gesundheitsamts Zutritt zur Wohnung, um nach Marcel zu schauen. Dieser fand einen auf 14 kg abgemagerten Jungen vor. Der Körper war wundgelegen, teilweise offen und entzündet, seine Haare waren verfilzt und Marcels Blick leer. Der Amtsarzt ließ ihn sofort ins Krankenhaus transportieren, wo er nach sieben Wochen, am 29. Mai 2010 an den Folgen der Vernachlässigung verstarb.

Gerichtsurteil:
Marcels Mutter wurde wegen Totschlags durch Unterlassen und Misshandlung von Schutzbefohlenen angeklagt und anfänglich zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt. Der Richter begründete sein Urteil damit, dass Marcels Mutter seinen Tod zwar nicht gewollt, ihn aber vorausgesehen und egoistisch gehandelt hätte. Sie hatte zugegeben, dass sie ihn verhungern ließ, um ihm weitere Qualen zu ersparen. Anfänglich stand noch in Frage, inwiefern das Jugendamt eine Mitschuld an Marcels Tod trug, jedoch wurde dieser Verdacht eingestellt. Da sich Marcels Mutter stets kooperativ dem Jugendamt gegenüber verhielt und ihren Sohn bis Dezember 2009 hingebungsvoll gepflegt hatte, hegte das Amt keinen Verdacht und konnte somit nicht damit rechnen, dass die Mutter von jetzt auf gleich die Versorgung des todkranken Jungen einstellte.

Strafmildernd wirkte sich das Schuldeingeständnis sowie die Kindheit der Mutter auf das Urteil aus. Sie lebte von Geburt an am Existenzminimum, am Rande der Gesellschaft und wurde von ihrem Großvater sexuell missbraucht. Auch die familiären Belastungen zum Zeitpunkt von Marcels Krankheit wurden berücksichtigt. Die Mutter musste gegen eine Zwangsräumung ihrer Wohnung kämpfen sowie gegen den drohenden Sorgerechtsentzug ihrer beiden anderen Kinder durch das Jugendamt, u. a. wegen Drogen- und Alkoholproblemen der Eltern. Die Mutter hatte sich vom Vater ihrer drei Kinder getrennt. Der neue Freund war jedoch ein bekannter Drogendealer.

Straferschwerend hingegen empfand das Gericht Marcels langsames Sterben über mehrere Monate hinweg. Als Kind und Pflegefall war er auf die Fürsorge seiner Mutter angewiesen, doch diese reagierte mit einem erschreckend hohen Maß an Gleichgültigkeit und mangelnder Empathie. Hinzu kam, dass sie Hilfsangebote vom Jugendamt ablehnte, keine neuen Rezepte mehr bestellte für die dringend benötigten Sonden und Marcel nicht mehr dem behandelnden Kinderarzt vorstellte.

Der Anwalt von Marcels Mutter hielt das Strafmaß für überhöht und forderte nicht mehr als sechs Jahre Haft. Daher legte er Revision ein. Er war der Überzeugung, dass einerseits die Rechtsmedizin nicht genug Sachkenntnisse zu Marcels Krankheit hatte, andererseits aber auch Ärzte und das Jugendamt fehlerhaft gehandelt hatten. Etwaige Fehler und eine Mitschuld seitens der Behörden sah das Gericht jedoch als unbegründet an. Da der Bundesgerichtshof daraufhin das Urteil teilweise aufhob, musste über eine neue Strafzumessung verhandelt werden. Marcels Mutter wurde im Revisionsverfahren zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt.