Marc

Das ist die Geschichte von Marc. Er lebte mit seinen Eltern und drei Geschwistern in Mönchengladbach. Marcs Geschichte ist anders, als die Geschichten, die wir sonst veröffentlichen und dennoch möchten wir sie wahren. Er starb im Januar 2017 im Alter von 17 Jahren auf ungeklärte Weise.

Marcs Elternhaus war schon immer mit großen Problemen behaftet. Er lebte mit seiner Familie in dem Mönchengladbacher Stadtteil Rheindahlen. Der Vater war Alkoholiker und neigte zu Gewaltausbrüchen. Marcs Mutter war aufgrund eines Schlaganfalls halbseitig gelähmt und auf Hilfe angewiesen. Hilfe, die sie von ihrem damals 14-jährigen Sohn bekam. Marc musste schnell erwachsen werden, denn er übernahm Pflichten, die eigentlich Eltern übernehmen. Der Junge kümmerte sich um die Familie, weil weder Mutter noch Vater dazu in der Lage waren. Marcs Eltern waren mit der Erziehung ihrer vier Kinder derart überfordert, dass das Jugendamt eingeschaltet werden musste. Eines von Marcs älteren Geschwistern wurde ab Mitte 1990 bis zur Volljährigkeit im Jahr 2005 vom Jugendamt in Obhut genommen. Das älteste Kind von Marcs Eltern hatte somit keinen Kontakt mehr zur Familie. Marcs 12-jährige Schwester kam mit der Familiensituation nicht zurecht und rebellierte. Aus diesem Grund suchten Marcs Eltern am 22. Januar 2014 die Bezirksverwaltungsstelle auf und ließen sich zu Erziehungsfragen beraten. Dort wurde dann das Jugendamt eingeschaltet, als die Mitarbeiter erfuhren, dass es gegen den Vater einen Beschluss über ein Annäherungsverbot gab, der nur wenige Tage zuvor erlassen wurde. Zwar zog die Mutter ihre Anzeige nur einen Tag später zurück, doch die Mitarbeiter forderten eine Erklärung. Die Eltern versicherten, dass alles in Ordnung sei, denn schließlich konnten sie auf 25 Jahre Ehe zurückblicken.

Marc musste mit der Behinderung seiner Mutter klarkommen und auch mit den Gewalt- und Wutausbrüchen seines aggressiven, alkoholkranken Vaters. Wenn dieser wieder getrunken hatte, wurde er aggressiv und verprügelte seine wehrlose Ehefrau. Die Nachbarn erzählten später, dass er nachts mit einer Eisenstange durch die Straße lief und damit auf Autos einschlug. Selbst die Nachbarn lebten in großer Angst vor Marcs gewalttätigem Vater. Sie sammelten Unterschriften, um seinen Auszug aus der Wohnung zu erzwingen. In der Familie gab es viele Polizeieinsätze.
Mal musste die Polizei wegen Ruhestörungen anrücken, mal weil der Vater die Mutter verprügelt hatte oder er randalierte. Er verständigte ebenfalls die Polizei und forderte, dass seine Ehefrau in eine Psychiatrie eingewiesen werden solle, weil sie eine Irre sei.

Am 12. Januar 2014 traute sich Marcs Mutter das erste Mal der Polizei zu sagen, dass ihr Mann sehr gewalttätig sei und sie Angst vor ihm habe. Dabei erwähnte sie, dass ihr Ehemann schon einmal einen Menschen getötet haben soll. Ab dem 13. Januar 2014 durfte der Vater die gemeinsame Wohnung nicht mehr betreten. Einen richterlichen Beschluss über ein Annäherungsverbot nahm die Mutter jedoch bereits einen Tag später wieder zurück.

Bereits zwei Tage nachdem seine Eltern wegen seiner 12-jährigen Schwester beim Jugendamt waren, nahm das Drama seinen Lauf. Marcs Mutter ertrug ihr Martyrium nicht mehr und forderte von ihrem gewalttätigen Ehemann die Scheidung.

Es war der 24. Januar 2014. In der vorangegangenen Nacht hatten sich Marcs Eltern, wie so oft, wieder gestritten. Der Vater hatte im Keller geschlafen und lauerte vor der Haustür auf seine Ehefrau. Als Marc und seine Mutter am nächsten Morgen die Wohnung gemeinsam verlassen wollten, um zum Arzt zu gehen, drängte sich sein 54-jähriger Vater vor die Haustür und versperrte ihnen den Weg.

Er zerrte seine Frau mit sich und hielt sie fest. Daraufhin wehrte sie sich und flüchtete so schnell sie konnte ins Schlafzimmer. Marcs Vater wurde noch rasender vor Wut, ging in die Küche und holte ein Messer. Dann lief er zielstrebig ins Schlafzimmer, in welchem seine verzweifelte Frau Schutz suchte. Der 14-jährige Marc eilte ihr zur Hilfe. Während Marcs Vater wie im Wahn auf seine Ehefrau einstach, warf sich Marc schützend vor seine Mutter. Er wollte sie retten und seinen Vater vor weiteren Angriffen abhalten. Stattdessen stach dieser auf seinen wehrlosen Sohn ein. Marc wurde durch zwei Messerstiche schwer an der Lunge verletzt und verlor viel Blut. Durch einen der Stiche wurde durch eine perforierte Lunge der Herzbeutel geöffnet. Mit letzter Kraft flüchtete er auf die gegenüberliegende Versicherungsagentur und rief um Hilfe. 33 Mal hatte Marcs Vater im Blutrausch auf seine Ehefrau eingestochen.

Als die Polizei am Tatort eintraf, zog sich Marcs Vater in seine Wohnung zurück. Er war noch immer mit dem Messer bewaffnet und holte sich noch eine Axt dazu. Mit einem Messer hatte er sich selbst an der Kehle verletzt und wollte sich von den Beamten töten lassen. Als diese jedoch nur Pfefferspay und Warnschüsse einsetzten, wollte er die Polizisten attackierte, wurde jedoch überwältigt und durch einen Schuss in den Oberkörper schwer verletzt. Auch Marc kämpfte um sein Leben. Seine 12-jährige Schwester war zur Tatzeit nicht in der Wohnung. Seine Mutter überlebte den Angriff nicht. Sie wurde 50 Jahre alt.

Marc überlebte die Tat schwerverletzt. Er konnte durch eine Notoperation gerettet werden. Nach einigen Tagen schwebte er nicht mehr in Lebensgefahr und kam nach einem langen Klinikaufenthalt in ein Heim. Ebenso die beiden jüngeren Geschwister.

Wie sich im Laufe der Ermittlungen herausstellte, wollte Marcs Vater bereits im Jahr 1980 ein damals 17-jähriges Mädchen töten. Das damalige Opfer konnte von der Polizei im Laufe der Ermittlungen ausfindig gemacht werden. Sie überlebte den Messerangriff nur knapp. Damals war Marcs Vater 20 Jahre alt. Als sich seine Freundin von ihm trennen wollte, rastete er aus und stach zehn Mal auf die junge Frau ein. Diese Tat war nirgendwo erfasst. Aus diesem Grund gab es keinen Eintrag im Vorstrafenregister von Marcs Vater. Der Eintrag war zwischenzeitlich verjährt, so dass dieser aus dem Bundeszentralregister gelöscht wurde. Somit hatte er im Jahr 2014 ein einwandfreies Führungszeugnis.

Einen Tag nach der Messerattacke wurde Haftbefehl wegen Totschlags erlassen. Ab dem 4. August 2014 musste sich Marcs Vater wegen Mordes und versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Misshandlung von Schutzbefohlenen vor dem Schwurgericht Mönchengladbach verantworten. 50 Zeugen waren geladen. Die Staatsanwaltschaft hatte für den Vater eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes gefordert.

Die 7. Strafkammer schloss sich dem Antrag der Staatsanwaltschaft jedoch nicht an. Diese sah den Vater als „persönlichkeitsgestörten Affekttäters“, der zur Tatzeit etwa 2,3 Promille Alkohol im Blut hatte. Somit galt die Tat nicht als Mord, sondern als Totschlag, was mittels eines psychologischen Gutachtens bestätigt wurde. Der Vater wurde im September 2014 zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Dem damals 14-jährigen Marc sprach das Gericht 35.000 Euro Schmerzensgeld zu.

Etwa ein Jahr später, im Jahr 2015, beging der Vater im Gefängnis Selbstmord. Marc hatte ihn seit dem Tag, an dem seine Mutter erstochen wurde, nicht mehr gesehen.

Nach einem langen Krankenhausaufenthalt wurde Marc zusammen mit seinen Geschwistern in einer Kindereinrichtung untergebracht. Nach etwa einem Jahr zog er sich jedoch immer mehr zurück. Sämtliche Hilfsangebote lehnte er ab. Marc war schwer traumatisiert von der blutigen Familientragödie und floh mehrmals aus dem Heim, da er die Nähe zu Menschen nicht ertragen konnte. Außerdem machten ihm geschlossene Räume Angst. Die schrecklichen Ereignisse aus seiner Kindheit konnte er nicht verarbeiten. Er fand keinen Halt. So suchte er Zuflucht auf den Bäumen und Dächern im Mönchengladbacher Stadtteil Windberg. Er führte sein Teenager-Leben als Obdachloser. Übernachtete häufig auf Bäumen. Eine Anwohnerin berichtete:

„Den kannten hier viele. Wir nannten ihn den Kapuzenmann, weil der immer so rumlief. Er hatte keine Wohnung und viele wussten, dass der in Bäumen schläft. Der kletterte den Stromkasten hoch und schlief da“.
Quelle: Express, 09.05.2017

Um an Essen und Drogen zu gelangen, beging er Diebstähle und fiel der Polizei wegen kleinerer Delikte sowie Hausfriedensbruch auf. Deshalb verbrachte er kurze Zeit in Jugendhaft. Marc wurde im November 2016 entlassen, allerdings mit der Bewährungsauflage, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben und in eine Jugendhilfeeinrichtung zurückzukehren. Der mittlerweile 17-Jährige verstieß jedoch gegen die Auflagen. Er lebte weiterhin auf Bäumen und Dächern. Daher suchte nun auch die Polizei nach Marc, weil ein Sicherungshaftbefehl erlassen worden war.

Es wurden mehrere Versuche unternommen, den Jungen zurück in die Einrichtung zu bringen. Allerdings verweigerte er jegliche Hilfe. Da man von seiner Angst vor geschlossenen Räumen wusste, bat man Streetworker, sich dem Jungen anzunehmen. Sie schafften es zwar mehrmals Kontakt zu Marc zu halten, doch auch diese Treffen nahm er irgendwann nicht mehr wahr. Ebenso suchten ihn seine Betreuer vom Jugendamt des Öfteren.

Zuletzt gesehen wurde Marc von seinen Betreuern des Jugendamtes. Im Januar 2017 entdeckten die Mitarbeiter sein Quartier, das er sich auf einem Flachdach eingerichtet hatte. Sie riefen die Polizei hinzu, da Marc in Sicherungshaft genommen werden sollte. Er hatte gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen. Doch Marc weigerte sich abermals die Hilfe anzunehmen. Der Polizei und den Betreuern gelang es nicht, ihn festzuhalten. Marc konnte flüchten.

Am 29. Mai 2017 meldete ein Spaziergänger der Polizei, dass eine große Puppe in einem Baum hinge. Die Beamten stellten jedoch schnell fest, dass es sich hierbei um keine Puppe handelte, sondern um eine mumifizierte Leiche. Die Feuerwehr musste bei der Bergung der Leiche helfen, da der Körper in etwa vier Meter Höhe lag und die Eibe dicht bewachsen war. Teilweise mussten Äste entfernt werden.

Zwar war schnell bekannt, dass es sich bei der Leiche um einen jungen Mann handelte, allerdings konnte die Person keiner Vermisstenanzeige zugeordnet werden. Erst die Obduktion brachte die traurige Gewissheit, dass es sich bei der mumifizierten Leiche um Marc handelte.

Da Marc vermutlich bereits im Januar verstorben war und sein Leichnam erst Ende April 2017 entdeckt wurde, konnte bei der Obduktion nicht eindeutig geklärt werden, ob Marc erfroren ist oder an einer Überdosis starb. Die Verwesung war bereits zu stark fortgeschritten. Ein Fremdverschulden konnte jedoch ausgeschlossen werden.

Viele fragten sich, warum Marcs Leichnam so lange unentdeckt blieb. Immerhin stand die Eibe auf einem Privatgrundstück eines älteren Ehepaares. Außerdem gingen täglich dutzende Menschen an dem Baum vorbei, da sich in der Nähe sowohl ein Kindergarten, als auch eine Grundschule und ein Sportplatz befanden. Allerdings kletterte Marc etwa vier Meter hoch in den Baum und die Stelle, die er sich suchte, war von der Straße aus kaum einsehbar.

Beisetzung
Im engsten Familienkreis wurde Marc am 16. Mai 2017 auf dem Wickrather Friedhof in Mönchengladbach in einer Urne im Gemeinschaftsgrab mit seiner Mutter beigesetzt.

Am darauffolgenden Tag nahmen rund 100 Bürger, Nachbarn und Freunde in einer bewegenden Trauerfeier Abschied von Marc. Zum Andenken ließen sie zahlreiche weiße Luftballons in den Himmel steigen. Auf einem Holzkreuz im hinteren Bereich der Trauerhalle stand ein Holzkreuz mit der Inschrift

„Du warst ein Held“
Quelle: Focus Online, 17.05.2017

Außerdem brannten 17 Kerzen. Für jedes seiner Lebensjahre eine.
Der Pfarrer lernte Marc nach der Familientragödie im Jahr 2014 kennen. Seine Stimme zitterte als er von Marcs Leben erzählte:

„Wir waren so froh, als er ins Jugendhaus Am Steinberg übersiedeln konnte. Und auch Marc schien ein wenig Hoffnung zu haben. Doch nach einem Jahr änderte sich etwas“.
Quelle: RP Online, 17.05.2017

Marc habe sich immer mehr zurückgezogen und sämtliche Hilfsangebote verweigert. Bei den Trauergästen flossen viele Tränen. Die Worte des Pfarrers für Marc berührte die Menschen:

„Jetzt bist du über den Wolken und hast keine Fesseln mehr“.
Quelle: Focus Online, 17.05.2017

An Marcs Grab wurden viele Blumen niedergelegt, ein weißer Porzellanengel und ein Kranz vom Sozialdienst katholischer Frauen mit den Worten „Wir denken an dich“.