Das ist die Geschichte von Leon aus Cuxhaven. Am 30. Oktober 2007 hätte er seinen ersten Geburtstag gefeiert. Diesen erlebte er jedoch nicht mehr. Sein Stiefvater hatte Leon am Abend des 3. Oktober 2007 wegen einer ausgelaufenen Windel erschlagen.
Leons Mutter war 20 Jahre alt und lebte mit ihrem Sohn in Cuxhaven (Stadtteil Süderwisch). Als Leon etwa fünf Monate alt war, lernte sie einen 22-jährigen Mann kennen. Die Beziehung lief gut und er zog schnell in die Wohnung der kleinen Familie ein. Allerdings war er wegen Körperverletzung sowie gefährlicher Körperverletzung polizeibekannt und die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Auch der Konsum von Alkohol war bei ihm sehr hoch. Dennoch schmiedeten sie gemeinsame Zukunftspläne. Sogar von einer Hochzeit war die Rede.
Während die Beziehung des Paares scheinbar harmonisch war, lief es hingegen bei der Versorgung von Leon nicht optimal. Eine 15-jährige Freundin der Mutter berichtete in ihrer Zeugenvernehmung davon, dass sie in der Wohnung verdorbene Gläschen und Fläschchen vorgefunden habe. Außerdem bekam Leon generell wenig zu essen. Als er abends einmal geweint hatte, wies sie die Mutter darauf hin, dass er eventuell Hunger habe. Daraufhin erklärte die Mutter, dass der Kleine abends nie eine Flasche bekäme.
Die junge Freundin nahm Leon mehrmals über das Wochenende mit zu sich nach Hause. Erst nach dem Einzug des Stiefvaters wurde ihr das von seiner Seite aus untersagt.
Doch nicht nur die Ernährung war ein Problem. Leon lag häufig weinend im Laufstall oder seinem Bettchen. Sie konnte zudem beobachten, wie Leon sowohl von seiner Mutter als auch vom Stiefvater etwas auf die Finger bekam, wenn er nicht hörte. Eine ehemalige Nachbarin bestätigte das Verhalten der Eltern. Der Stiefvater sei aggressiv gewesen und brüllte Leon oft an.
Die Mutter zeigte ebenfalls ein aggressives Verhalten. Während eines Streits mit ihrem Freund um eine Chat-Bekanntschaft, hatte sie Leon auf den Boden geworfen.
Es wurde vom Umfeld jedoch zum Glück nicht tatenlos dabei zugesehen. Nachbarn meldeten ihre Beobachtungen dem Jugendamt und auch die erst 15 Jahre alte Freundin ging mit Fotos der vergammelten Babynahrung zum Jugendamt. Den Hinweisen wurde umgehend nachgegangen und die Familie wurde daraufhin seit April 2007 vom Jugendamt betreut und kontrolliert. Die Besuche erfolgten regelmäßig und wurden auch unangemeldet durchgeführt. Sowohl Mutter als auch Stiefvater nahmen die Hilfe der Behörden an und wirkten aktiv bei der Hilfe mit. Unterschiedliche Mitarbeiter des Jugendamtes beschrieben die familiäre Situation als stabil und tragfähig. Die Mutter war zwischenzeitlich wieder schwanger und erwartete im April 2008 mit dem Stiefvater ihr erstes gemeinsames Kind. Es gab keine Hinweise, die eine Vernachlässigung des Kindes rechtfertigen konnten. Der letzte Besuch des Jugendamtes fand ein Tag vor Leons Tod statt. Doch auch an jenem Tag sah man das Wohl des Kindes als nicht gefährdet.
Am 3. Oktober 2007 hat sich die kleine Familie mit Freunden zu einem Spaziergang verabredet mit anschließendem Besuch des Cuxhavener Fleckenmarktes (Kirmes). Dort hatte der Stiefvater reichlich Alkohol getrunken und Schmerztabletten eingenommen. Als die Drei wieder nach Hause gegangen waren, aßen sie zu Abend und hielten sich im Anschluss in unterschiedlichen Räumen auf. Die müde Mutter bat ihren Lebensgefährten darum, Leon ins Bett zu bringen. Dann ging sie ins Schlafzimmer und schloss hinter sich die Tür, um in Ruhe den „Werner“-Film anzusehen. Der Stiefvater hingegen sah sich im Wohnzimmer ein Werder-Bremen-Spiel an. Leon lag neben ihm auf der Couch. Zwischen 20.30 und 21.30 Uhr bemerkte er, dass Stuhlgang aus Leons Windel lief und auf die Couch geriet. Außer sich vor Wut schlug er dem wehrlosen Jungen mindestens ein Mal gezielt mit der Faust in den Bauch. Leon erlitt dadurch tödliche innere Verletzungen an der Leber sowie an der Bauchspeicheldrüse. In der bereits eingetretenen Sterbephase kam noch ein Schädelbasisbruch hinzu. Es ließ sich allerdings nicht mehr rekonstruieren, ob der Stiefvater Leons Kopf absichtlich gegen den Couchtisch schlug oder ob Leon ohne dessen Zutun vom Sofa stürzte. Direkt nach der Tat ging der Lebensgefährte zur Mutter ins Schlafzimmer und informierte sie über die kotverschmierte Couch. Sie setzten Leon gemeinsam aufs Töpfchen, doch da war er vermutlich schon tot. Sie mussten ihn zusammen festhalten, da Leon hin- und herschwankte und nicht von selbst sitzen blieb. Erst dann bemerkte sie, dass ihr Sohn nicht mehr atmete. Der Stiefvater alarmierte den Notarzt. Bis zu dessen Eintreffen begann er selbst mit Wiederbelebungsversuchen. Allerdings führte er diese so brutal aus, dass er Leon zwei Rippenbrüche zufügte. Er legte seine Hand auf Leons Brust und schlug mit seiner anderen Faust aus 50 Zentimeter Entfernung auf seine andere Hand ein. Die Mutter versuchte ihn davon abzuhalten, weil es ihr zu gewaltvoll erschien, doch ihr Freund beruhigte sie und gab an zu wissen, was er tue. Während der Herzmassage sprach sie ihn auch auf die blauen Flecken auf Leons Oberkörper an und wollte wissen wie diese entstanden. Er wich ihr aus und sagte, dass er das nicht wisse. Als der Notarzt im zweiten Stock des Mehrfamilienhauses eintraf, konnte er nur noch Leons Tod feststellen.
Über die Beisetzung von Leon liegen uns leider keine Informationen vor.
Gerichtsurteil
Die Mutter und ihr Lebensgefährte wurden festgenommen. Da der Stiefvater die Tat gestanden hatte, wurde die Mutter freigelassen. Gegen sie bestand kein Tatverdacht. Gegen den Lebensgefährten wurde Haftbefehl erlassen und Anklage erhoben wegen Totschlags.
Auch wenn der Stiefvater die Tat eingeräumt hatte, so bestritt er, dass er Leon absichtlich und gezielt geschlagen habe. In seiner ersten Vernehmung gab er an, Leon sei vom Sofa gefallen, als er auf Toilette war. Zum Prozessauftakt im März 2008 stellte er das Geschehen wieder als Unfall dar, jedoch in einer anderen Version. Vor Gericht gab er an, er habe sich über eine Fußballszene im Fernsehen geärgert und dabei mit der Faust hinter sich auf das Sofa schlagen wollen. Dabei hätte er Leon versehentlich getroffen. Als er ihn daraufhin auf den Arm genommen hätte, sei er gestolpert und Leon sei mit dem Kopf gegen die Tischkante geknallt. Seinen früheren Aussagen widersprach er damit. Doch auch bei den polizeilichen Vernehmungen schilderte er jedes Mal einen anderen Ablauf. Der Richter sprach ihn auf die Widersprüche an und der Stiefvater erklärte, er sei durcheinander gewesen und stand unter dem Einfluss von Medikamenten. Die Schuld an früheren Verletzungen wies er ebenso von sich. Für blaue Flecken und Kratzer an Leons Körper trage er keinerlei Verantwortung, sondern der Junge habe sich diese selbst zugezogen oder die Katze habe ihn gekratzt. Er präsentierte sich stattdessen als liebevoller Vater, der den Jungen adoptieren wollte und den er nie geschlagen habe.
Die Mutter sollte im Prozess gegen den Stiefvater als Zeugin und Nebenklägerin auftreten. Doch per Fax wurde von einer Ärztin eine Bescheinigung übermittelt, dass die Mutter eine posttraumatische Belastungsstörung habe, vor Gericht nicht erscheinen könne und die Verhandlungsunfähigkeit noch drei bis sechs Monate andauere. Daher wurde bei der Fortsetzung der Verhandlung im April entschieden, dass die Mutter für den 5. Mai nochmals vorgeladen werden sollte und bei nochmaliger Nichterscheinung ihre bisherigen Aussagen vorgelesen werden müssen. Aufgrund der Untersuchungshaft des Angeklagten konnte die Aussage nicht weiter hinausgezögert werden.
Vor Gericht sagten an diesem zweiten Verhandlungstag auch die Polizeibeamten aus. Sie wiesen darauf hin, dass der Angeklagte immer einen anderen Tathergang schilderte und bei Besuchen in der U-Haft berechnend und emotionslos wirkte – es sei denn, es ging um ihn selbst. Als er vom neuen Freund erfuhr, wurde er aggressiv.
Da die Mutter bei der Fortsetzung der Verhandlung im Mai ebenfalls nicht erschien, wurden ihre Aussagen bei der Polizei verlesen.
Der Staatsanwalt forderte zehn Jahre Haft wegen Körperverletzung mit Todesfolge sowie Misshandlung von Schutzbefohlenen. Er deutete die unterschiedlichen Aussagen zum Tathergang als möglichen Vertuschungsversuch. Zwar unterstellte er keine vorsätzliche Tötungsabsicht, wohl aber einen Vorsatz bei der Körperverletzung. Das hohe Strafmaß begründete er einerseits mit der Nichtigkeit des Anlasses und der Schutzwürdigkeit des Kleinkindes als auch mit der Schwere der Gewalt.
Der Verteidiger des Stiefvaters beantragte hingegen eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung. Die schweren inneren Verletzungen seien durch die Wiederbelebungsmaßnahmen entstanden. Außerdem würde ein Totschläger nicht selbst den Rettungswagen alarmieren. In seinem letzten Wort sagte der Stiefvater:
„Ich hätte mich gern persönlich bei Frau XX (Anm.: Leons Mutter) entschuldigt. Es tut mir wirklich leid und ich würde das gerne rückgängig machen. Ich habe einiges kaputt gemacht und muss damit leben“.
Quelle: Cuxhavener Nachrichten, 06.05.2008
Ein psychologisches Gutachten erklärte die verschiedenen Versionen des Geschehens damit, dass der Angeklagte korrigieren wollte, was er getan hatte. Rationale Erwägungen spielten hierbei keine Rolle. Zudem wurde ADHS und seelische Störungen diagnostiziert sowie eine ungünstige Sozialisation u. a. wegen fehlendem Schul- und Berufsabschluss.
Der Urteilsverkündung folgte der Angeklagte ohne erkennbare Emotionen. Er wurde verurteilt zu sechs Jahren Haft wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Da er sich jedoch noch in der Bewährungsphase befand von zwei vorangegangenen Körperverletzungsdelikte, musste er eventuell noch zusätzliche sieben Monate in Haft.
Dem Vorwurf der Misshandlung folgte die Kammer nicht. Zwar sei der Schlag in den Bauch mit großer Wucht erfolgt, doch eine rohe Misshandlung durch eine gefühllose und nicht achtende Gesinnung sei unbegründet. Auch ein Tötungsvorsatz war nicht erkennbar.
Dass Leons Tod ein Unfall war, glaubte der Richter dem Angeklagten nicht. Dafür sei das rechtsmedizinische Gutachten zu eindeutig gewesen. Leon hatte u. a. einen Abriss des rechten Leberlappens und des Bauchspeicheldrüsenkopfes. Derart schwere innere Verletzungen konnten nur durch einen gezielten Schlag entstanden sein.
Strafmindernd wirkte sich das Teilgeständnis, die Entschuldigung sowie seine Steuerungsfähigkeit aus. Es konnte nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass diese vermindert war durch die ADHS, der dissozialen Persönlichkeitsstörung und dem Alkoholeinfluss (ca. 1,5 Promille).
Straferschwerend war, dass sich die Gewalt gegen einen wehrlosen Säugling richtete und er vorbestraft war. Seine damalige Haftstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Hinzu kam, dass er die Behandlung seiner Krankheit ablehnte.
Nach Leons Tod zog die Mutter in eine Mutter-Kind-Einrichtung. Das gemeinsame Kind mit dem Stiefvater gebar sie zum Beginn der Verhandlungen Ende März 2007. Es ist ein Junge, den sie Felix nannte. Vom Vater des Kindes bekam sie weiterhin Briefe aus dem Gefängnis, die sie jedoch unbeantwortet ließ:
„Ich kann ihm nicht verzeihen, gebe ihm keine Chance mehr. Ob er jemals seinen Sohn sehen wird, weiß ich nicht“.
Quelle: Bild, 01.04.2008