Lala

Lala ist mit schutzlos-wehrlos in Kontakt getreten, um ihre Lebensgeschichte zu erzählen.

„Vielen Dank, dass es euch gibt! Es ist so schön zu wissen, dass es Menschen gibt, die sich für die einsetzen, die es am dringensten brauchen – Kinder. Und es ist schön, dass ihr das Tabu um dieses Thema brecht und Menschen dafür sensibilisiert, welche grausamen Dinge hinter verschlossenen Türen geschehen können.

Ich selbst habe erfahren, wie viele Menschen ihre Augen und Ohren verschließen, anstatt anderen zu helfen. Ich war zwar ’schon‘ 16, als mir häusliche Gewalt zuteil wurde, aber dennoch hätte ich so dringend Hilfe gebraucht. Ich kann nicht zählen wie oft ich voller Angst in der Ecke eines Zimmers gekauert habe, während ich angeschrieen wurde und mir so sehr wünschte einer der vielen Nachbarn in unserem Mehrfamilienhaus hätte kurz bei uns geklingelt oder die Polizei angerufen. Doch in den ganzen 2 Jahren, in denen ich diese Hölle erleben musste hat mir nicht ein einziger Mensch Hilfe angeboten. Was haben sich die Nachbarn wohl gedacht, wenn sie mich im Hausflur trafen, eine Minderjährige mit aufgeplatzter Lippe, blauen Felcken, blass und ängstlich? Oder wenn in unserer Wohnung mal wieder geschrieen, Tische und Stühle umgeworfen wurden und man ein junges Mädchen vor Angst weinen hörte? Das es sie nichts angeht? Doch, das tut es, dieses Thema geht alle etwas an. Danke, dass ihr dabei helft, Menschen genau das vor Augen zu halten.

Ich bin so dankbar dafür, dass mir all das nicht geschehen ist, als ich noch jünger und noch hilfloser war. Denn so hatte ich die Möglichkeit, es mit 18 endlich zu schaffen mich zu befreien. Zwar voller Ängste und schwer traumatisiert, aber lebendig. Ich habe mir mein Leben Stück für Stück zurück erkämpft. Es folgten schwere drei Jahre, aber jetzt mit 21 bin ich glücklich und so frei wie noch nie in meinem Leben.

Ich kann nicht beschreiben, wie betroffen mich das Schicksal jedes einzelnen der Kinder macht, die dieses Glück nicht haben durften. Die sterben mussten, bevor sie leben durften. Und ich hoffe sehr, dass Aktionen wie die von euch dazu führen, dass es bei anderen Kindern vielleicht nicht so weit kommt.

Jetzt habe ich so viel geschrieben, dabei wollte ich eigentlich nur eines sagen: DANKE, für eure Arbeit!“

Dies ist die Geschichte von Lala!

„Ich wurde 1993 geboren und habe noch eine ältere Schwester. Meine Eltern trennten sich, als ich 5 war, nach einer zwei Jahre andauernden Ehekrise. Nur wenig später kam ein neuer Mann in das Leben meiner Mutter. Als Kind hatte ich eine viel stärkere Bindung zu meiner Mutter als zu meinem Vater. Ich erlebte meinen Vater in meiner Kindheit als wenig präsent und hatte oft das Gefühl, dass er nur genervt von mir und meiner Schwester sei. Die Rolle meiner Mutter war dabei weniger konstant. Ihr Verhalten konnte sich innerhalb von Minuten ins krasse Gegenteil verwandeln. Im einen Moment drückte sie Liebe aus, im nächsten Verachtung, Wut und Vorwürfe. Man wusste nie woran man bei ihr war. Umso älter wir wurden, desto stärker wurden die ‚krankhaften‘ Anteile ihrer Persönlichkeit. Wir waren ihre Spielfiguren in einer Inszenierung von Macht, Manipulation, Aggression und Leid.

Die Unbeständigkeit und Verwirrung in meinem Leben führten dazu, dass ich ein sehr stilles, nachdenkliches und sensibles Kind war. Ich analysierte permanent meine Umgebung und meine Mitmenschen und lernte, jede Gefühlsregung meiner Mutter sofort wahrzunehmen. Schon mit 3 und 4 Jahren hatte ich das Gefühl auf irgendeine Art ‚fehlerhaft‘ zu sein und warf es mir selbst vor, meine Mutter nicht glücklich machen zu können. Wenn es ihr schlecht ging, hatte ich das Gefühl, dass es mir auch nicht gut gehen dürfe.

All das grenzte mich auch von Gleichaltrigen ab, so dass ich in Kinderladen und Grundschule oft sehr einsam war und schwer Freunde fand. Nach der Trennung meiner Eltern zog erst mein Vater bei uns aus, zog dann nocheinmal um und dann wieder zurück in unsere Wohnung und wir zogen aus. Nur wenig später zogen wir auch ein zweites Mal um, weshalb ich mitten in meinem ersten Schuljahr die Schule wechseln musste, was sehr schwierig für mich war. Und als ich in der vierten Klasse war zogen wir schließlich ein weiteres Mal um. All diese Umstellungen sorgten dafür, dass es in meinem Leben noch mehr an Beständigkeit fehlte.

Meine Schwester und ich verstanden uns nie wirklich gut mit unserem Stiefvater. Er hatte sehr verquere Ansichten zu vielen Themen und war der allgemeinen Auffassung, dass Kinder nicht viel wert seien. Unsere Mutter machte es uns zu einem großen Vorwurf, dass wir ihren Mann nicht mochten. Wenn sie merkte, dass wir uns unseren Vater anstelle unseres Stiefvaters zurück wünschten, warf sie uns vor, nicht zu wollen, dass sie glücklich sei und ihr kein schönes Leben zu gönnen.

Als ich 9 Jahre alt war bekamen meine Mutter und mein Stiefvater ein gemeinsames Kind, meinen kleinen (Halb)Bruder. Meine Schwester und ich schlossen ihn sofort in unser Herz und er brachte uns oft zum Lachen.

Mit 11 ereignete sich eine erneute einschneidende Veränderung in meinem Leben. Die Exfrau meines Stiefvaters litt unter einer psychischen Störung und mein Stiefvater setzte vor Gericht durch, seine beiden Kinder, meine Stiefgeschwister, zu sich zu holen. Meine Stiefschwester ist ein Jahr älter als meine Schwester und mein Stiefbruder so alt wie ich. Einen Tag nachdem ich von dem ganzen erfuhr zogen die beiden schon bei uns ein. Ab diesem Zeitpunkt waren wir also zu siebt. Vier Kinder im Alter von 11 bis 15, mein zweijähriger kleiner Bruder und unsere ‚Eltern‘. Danach wurde alles noch viel schwieriger. Es fühlte sich schon bald an, wie als seien wir keine Familie mehr, sonder eher ein kaltes Unternehmen, in dem jeder funktionieren musste. Jede noch so kleine Arbeit im Haushalt wurde in sogenannte Dienste verpackt. Es gab also einen Wäschedienst, einen Blumen-Gieß-Dienst, einen Küchendienst, diverse Putzdienste, Einkaufsdienste und vieles mehr. All diese Dienste wurden dann auf uns Kinder verteilt. Ich frage mich bis heute, wie es meine Mutter schaffte, dass in diesem Haus überhaupt so viel Arbeit anfiel, aber wir alle hatten mindestens 2 oder 3 Dienste pro Tag. Bevor wir diese nicht erledigt hatten, durften wir keine Freizeit verbringen. Also weder Freunde treffen, noch etwas gemeinsames Spielen, lesen oder auch nur eine halbe Stunde Musik hören. Auch seine Hausaufgaben machen zu müssen, war kein ausreichendes Argument. Wenn wir sagten, dass wir wirklich viel für die Schule tun müssten, wurden zwar manchmal die Dienste, die wir an dem Tag hatten auf die anderen Kinder verteilt, aber danach wurde dann auch darauf geachtet, dass wir den ganzen Tag wirklich nichts anderes machten, als zu lernen. Wenn man auch nur eine kurze Pause machen wollte hieß es: „Wenn du jetzt die Zeit hast, etwas Schönes zu machen, dann hättest du auch noch dies oder jenes im Haushalt machen können.“ Wir waren alle in einem Hamsterrad gefangen, in dem es nur darum ging zu funktionieren und allen Ansprüchen gerecht zu werden. Das Leben blieb dabei immer wieder auf der Strecke. Anfangs versuchte ich noch, alles schnell zu erledigen, um danach ein wenig Zeit mit Freunden verbringen zu können, aber das war jedes Mal ein Kampf. Selbst wenn ich alle Aufgaben bewältigt hatte, unterlag es der reinen Willkür meiner Mutter, ob ich etwas mit Freunden unternehmen durfte oder nicht. Jedesmal, wenn ich mit einer Freundin fahrradfahren oder mich auch nur draußen unterhalten wollte, setzte meine Mutter je nach Tageslaune ein mehr oder weniger kurzes Zeitlimit, nach dem ich wieder zuhause sein musste. Oder sie entschied sich, dass ich überhaupt nicht nach draußen dürfte, einfach weil ihr nicht danach war. In der Schule gab ich mir viel Mühe und schrieb immer gute Noten, aber auch das änderte für meine Mutter nichts. Egal was ich tat, es war nie gut genug. Die Situation führte dazu, dass ich mit 12 Jahren das erste Mal Depressionen hatte. Durch das, was meine Mutter tat, sperrte sie mich in einem dunklen Käfig, den von außen niemand sehen konnte.

Doch langsam aber sicher entwickelte ich eine Überlebensstrategie, die mir im Rahmen meines Gefängnisses ein wenig Freiheit ermöglichte. Ich trat in der Schule in alle möglichen Arbeitskreise ein, sang im Chor, arbeitete bei der Schülerzeitung mit, war in einem AK Menschenrechte und einigen weiteren. Gleichzeitig ging ich in den Konfirmationsunterricht (obwohl ich eigentlich nicht getauft war) und arbeitete im Zuge dessen in der Gemeinde an verschiedenen Jugendpojekten mit. Da fast all diese Sachen Pflichttermine waren, konnte meine Mutter sie mir nicht mehr willkürlich verbieten. Zumindest nicht, ohne dass es irgendwelche Konsequenzen gehabt hätte. Bei all diesen Terminen lernte ich Gleichaltrige kennen und da es mir inzwischen leichter fiel, Kontakte zu knüpfen, schloss ich viele neue, wertvolle Freundschaften. So hatte ich eine Möglichkeit gefunden, regelmäßig Freunde zu sehen und Zeit außerhalb der ‚Familie‘ verbringen zu können, ohne das jedes Mal vor meiner Mutter durchsetzen zu müssen. Eine zeitlang ging es mir besser, auch wenn ich jeden Tag neben der Schule verschiedene Termine hatte und gleichzeitig noch all die Aufgaben zuhause und meine Schulsachen erledigen musste.

Mit 14 und 15 wurde es allerdings leider wieder schlechter. Meine Mutter spürte, dass ich es schaffte ihr auf meine Art und Weise zu entfliehen und setzte immer neue Bedingungen, wie „wenn du diese oder jene Arbeit nicht noch nebenbei schaffst, möchte ich dass du aus dem oder dem Kurs austrittst“. Sie gab vor sich Sorgen um mich zu machen, weil ich den ganzen Tag etwas zu tun hatte, kam aber nicht auf den Gedanken, mir deshalb einfach einen Dienst weniger zu geben. Irgendwann fing sie an, mir immer mehr Steine in den Weg zu legen, indem sie zum Beispiel sagte: „Bevor du zum Konfi-Treffen gehst, putzt du bitten noch das Treppenhaus“, wenn ich grade noch 10 Minuten hatte, bevor ich los musste. Sie erzielte die gewünschte Wirkung. Mir wurde wieder alles zu viel. Jeden Morgen, wenn ich aufwachte, wartetet ein durchgeplanter Tag voller Arbeit auf mich. Ich wurde wieder depressiv, schaffte immer weniger, sagte immer mehr Termine ab und war am Ende schon mit den kleinsten Dingen überfordert, wie meine Mails regelmäßig zu beantworten. Ich entwickelte Ängste vor allen möglichen Aufgaben, bekam Schlafstörungen und sah immer weniger Sinn darin, weiter zu leben. Das Schuljahr endete schließlich damit, dass ich 5 Monate in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie verbrachte. Eine Woche, nachdem ich dort aufgenommen wurde ging meine Mutte selbst auf eine 3-wöchige Kur und fuhr danach mit meiner Familie noch 2 Wochen in den Urlaub. Sie ließ mich dort also die erste Zeit weitgehend alleine. In der Klinik bekam ich dagegen zum Glück viel Hilfe und Unterstützung, auch wenn die Ärzte bis zum Schluss nicht ganz durchschauten, was bei uns zuhause falsch lief. Endlich interessierte es jemanden, wie es mir ging, man hörte mir zu. Die Ärtzte und Pfleger dort fanden meinen Zustand kritisch. Sie sagten mir, dass sie selten eine Patientin mit so schweren Depressionen gesehen hätten und befürchten auch, dass ich mir etwas antun könnte.

Die Einstellung meiner Mutter zur Klinik welchselte immer wieder. Erst war sie glaube ich froh, mich irgendwo ‚abstellen‘ zu können, um sich selbst nicht mit mir und meiner Krankheit beschäftigen zu müssen. Dann wieder sagte sie, die Klinik würde mich nur noch kränker machen und wollte mich am liebsten so schnell wie möglich nach hause holen. Einmal beschloss sie sogar, nachdem ich zu Besuch zu hause gewesen war, dass sie mich gegen meinen Willen nicht mehr in die Klinik zurücklassen würde. Sie veranstaltete dort einen riesigen Aufstand und nur durch einige Anstrengungen und Tricks der Klinik schafften sie es, dass ich auch ohne Zustimmung meiner Mutter bleiben durfte. Meine Mutter warf mir vor, dass ich durch meine Krankheit so tun würde, als würden wir zuhause misshandelt werden, oder als wäre sie eine schlechte Mutter. Damals wusste ich noch nicht, dass das eigentlich tatsächlich zutraf, bloß dass wir emotional und nicht körperlich misshandelt wurden.

Als ich schließlich aus der Klinik entlassen wurde ging es mir zwar besser, aber ich war noch immer krank und hatte immer weniger Hoffnung, es irgendwann aus dieser Spirale heraus zu schaffen. Kurz danach lernte ich ein Mädchen kennen, das 3 Jahre älter war als ich (sie 18 und ich 15), und das aus einem Grund, der mir damals noch nicht bewusst war, eine unglaubliche Faszination auf mich auswirkte. Ich hatte das Gefühl, sie käme bewundernswert gut mit dem Leben klar und schien dabei so perfekt zur Zeit und der Gesellschaft zu passen. All das, was ich selbst so sehnlichst erreichen wollte und doch nicht schaffte. Wir freundeten uns an und damit begann leider erst die schlimmste Zeit in meinem Leben. Man sah ihre Fassade von Tag zu Tag mehr bröckeln, doch als mir irgendwann bewusst wurde, wie beängstigend ihr wahres Gesicht aussah, war ich schon stark abhängig von ihr. Sie brachte mir viel Abwertung und Verachtung entgegen. Sie warf mir vor, die Depressionen all die Monate nur gespielt zu haben um Aufmerksamkeit zu bekommen und verlange von mir, dass ich genauso dachte. Sie redete mir ein, ich sei ein schlechter Mensch, der es nicht verdient habe gut behandelt und geliebt zu werden. Im Prinzip sagte sie mir all das, was ich selbst tief in mir schon immer dank meiner Mutter gespürt hatte. Heute weiß ich, dass das auch genau der Grund ist, warum ich ausgrechnet an einen Menschen wie sie geriet. Ihre Persönlichkeit war der meiner Mutter erschreckend ähnlich, nur dass sie die Verhaltensweisen meiner Mutter noch stärker an den Tag legte und ihre Manipulation weniger subtil stattfand als die meiner Mutter. Im Prinzip stolperte ich vom einen Gefängnis in das nächste, suchte scheinbar unbewusst nach etwas Bekanntem.

Unsere Freundschaft ging schleichend in eine Beziehung über. Während sich das Verhalten meiner Mutter auf uns alle ausgewirkt hatte, konzentrierte sich das meiner Freundin nur auf mich. Sie stellte immer mehr Bedinungen an mich und drohte mir damit mich zu verlassen, wenn ich nicht das machte was sie wollte. Ich sollte sämtliche Kontakte zu Freunden abbrechen, sollte mich anders kleiden, anders sprechen, ja, sogar anders denken. Es war schlimm zu versuchen diesen Ansprüchen gerecht zu werden, aber noch schlimmer war damals für mich die Vorstellung, die Freundin zu verlieren. Ich verleugnete mich selbst, verbog mich, um mich so zu verändern, wie es die Freundin wollte. Anfangs versuchte ich noch, Dinge, bei denen ich mir nicht vorstellen konnte, sie zu verändern, vor ihr zu rechtfertigen, doch irgendwann tat ich nur noch, was sie wollte. Doch auch als man mich kaum noch wieder erkannte, war sie nicht zufrieden. Sie fand immer neue Dinge, die sie an mir störten und die mich als schlechten Menschen auszeichneten. Auch forderte sie, dass ich sehr viel Zeit mit ihr verbrachte, was natürlich stark mit den Forderungen meiner Mutter kollidierte. Es war schon unmöglich einem von beiden alles recht zu machen, aber die Bedingungen beider zu erfüllen war nicht einmal ansatzweise möglich. Aus Angst meine Freundin zu verlieren lernte ich also zum ersten Mal, meiner Mutter zu wiedersprechen. Ich hatte das Gefühl, beide würden an mir ziehen und mich Tag für Tag fast in der Mitte auseinander reißen. Doch letztendlich gewann meine Freundin diesen Kampf. Als ich 16 war zog ich mehr oder weniger mit ihr zusammen und war nur noch selten zuhause. Die Beziehung wurde immer intensiver und besitzergreifender. Ich sollte nichts tun, was nichts mit meiner Freundin und ihren Wünschen zu tun hatte, sollte nichts Eigenes mehr haben. Sie kontrollierte mein Handy, meine Mails, sogar meine einzelnen Schulhefte, um sicher zu stellen, dass ich nichts tat oder dachte, was ihr nicht passte.

Der Alltag war von fürchterlichen Streiten geprägt und irgendwann schlich sich in die Auseinandersetzungen Gewalt ein. Es schien von Tag zu Tag schlimmer zu werden, sie schien süchtig danach, immer mehr meiner Grenzen zu überschreiten. Immer öfter sperrte sie mich in der gemeinsamen Wohnung ein, schrie mich stundenlang an, bewarf mich mit Gläsern, Büchern oder was auch immer sie gerade fand. Egal was sie gerade in ihrem Leben störte, sie projizierte alles auf mich und lies es an mir aus. Ein paar Mal verletze sie mich in Streiten so sehr, dass sie selbst erschrak und mir versprach, mich nicht mehr zu schlagen. Aber dieses Versprechen hielt sie höchstens ein paar Tage ein. Wenn ich versuchte sie zu verlassen, drohte sie mir damit, sich das Leben zu nehmen und schaffte es so, mich wieder zurück zu holen. Das schlimmste jedoch war, dass sie mir verbieten wollte zu schlafen. Ihre Worte waren „würdest du mich lieben, würdest du nie schlafen während ich wach bin.“ So verlangte sie von mir niemals vor ihr einzuschlafen, immer wach zu sein, wenn sie plötzlich mitten in der Nacht aufwachte und morgens immer vor ihr aufzuwachen. Dieser Punkt war einer unserer größten Streitthemen, denn natürlich konnte ich nicht einfach aufhören zu schlafen. Wenn sie doch nachts aufwachte und merkte dass ich schlief, stieß sie mich aus dem Bett oder fing an auf mich einzuschlagen. Danach schickte sie mich aus dem Raum und verlangte von mir die restliche Nacht wach zu bleiben. Es vergingen fast sieben Monate, in denen ich nicht oder nur wenige Stunden pro Nacht schlafen konnte. Meine Freundin hingegen schlief meist, während ich in der Schule war.

Ich wünschte mir immer wieder, irgendwer würde mir helfen. Nur ein einziges Mal, fragte mich in der Schule ein Lehrer, ob alles okay sei. Doch damals besaß ich nicht den Mut, ihm die Wahrheit zu sagen. Niemand sonst sprach mich darauf an, dass ich ständig im Unterricht einschlief, nur noch etwas mehr als 40kg wog und immer stiller wurde. Einmal versuchte ich mich meiner Mutter anzuvertrauen und erzählte ihr, dass ich Angst vor meiner Freundin hätte, dass sie mich manchmal einsperrte und nicht zur Schule ließ und ich es aber nicht schaffte sie zu verlassen. Ich war damals 17. Doch anstatt mir auch nur im geringsten zu helfen, fing meine Mutter ab dem Zeitpunkt an, mich die wenigen Male, die ich zuhause war, noch schlechter zu behandeln. Sie schien sich jetzt in Sicherheit zu wägen, dass ich sowieso immer wieder zurück kommen würde, da meine Freundin ja noch schlimmer war als sie. Später erzählte meine Mutter meiner Schwester, sie habe befürchtet, wenn sie mir helfen würde von meiner Freundin weg zu kommen und ich dann wieder zurück gegangen wäre, hätte meine Mutter noch weniger Macht über mich gehabt. Deshalb habe sie mir nicht geholfen..

Ab dem Tag, an dem meine Freundin zum ersten Mal gewalttätig wurde vergingen ganze 465 Tage, bis ich es endlich schaffte, der Beziehung zu entfliehen.

Doch immerhin schaffte ich es. Nur 3 Tage nach meiner letzten Abiprüfung packte ich mithilfe einer Freundin (zu der ich heimlich wieder Kontakt aufgenommen hatte) und meiner Schwester all meine Sachen, während meine Freundin in der Arbeit war und floh. Meine Freundin suchte in der ganzen Stadt nach mir und versuchte mich auf allen erdenklichen Wegen zu erreichen. Doch ich hatte meine SIM-Karte gewechselt, sie in Facebook blockiert und lebte 2 Monate bei einer Freundin, deren Adresse sie nicht kannte.

Leider war ich noch immer abhängig von ihr. Ich hatte das Gefühl, niemals alleine überleben zu können. Irgendwann schaffte sie es trotzallem, Kontakt zu mir aufzunehmen und versuchte mich zurück zu gewinnen. Schließlich ließ ich mich in eine Klinik in einer anderen Stadt einweisen, um es mit der Hilfe dort zu schaffen von meiner Freundin weg zu bleiben. Die Zeit in der Klinik war unfassbar schwer. Es war wie ein Entzug, an manchen Tagen saß ich nur zitternd in meinem Zimmer und hatte panische Angst, jeden Moment einfach aufzuhören zu existieren. Ich wusste wie irrational diese Angst war und doch schien es nichts zu geben, was nach dieser Beziehung von mir übrig geblieben war und somit weiter existieren könnte. Eine Krankenplfegerin sagte mir einmal, ich wirke auf sie wie ein zartes Blatt an einem Baum, dass jeder kleine Windstoß zum Zittern bringen könne und sehr ähnlich fühlte ich mich auch.

Aber es wurde besser. Nach drei Monaten in der Klinik wurde ich entlassen und ging in eine Rehaeinrichtung für junge Erwachsene mit seelischen Erkrankungen. Die Einrichtung war leider nicht besonders gut, so dass ich nach vier Monaten wieder zurück in die Klinik ging. Ich blieb dann nochmal etwas mehr als drei Monate und als ich das nächste Mal entlassen wurde, ging es mir schon wesentlich besser. Immerhin war schon ein Jahr vergangen, seit ich meine Freundin verlassen hatte. Nur wenige Tage nach der Entlassung begann ich ein Praktikum in einem Kinderladen und sammelte viele wertvolle Erfahrungen und sehr viel Bestätigung von den Kindern und ihren Eltern, was mir unglaublich half. Danach machte ich ein Praktikum in einer Kinderklinik, das ich für ein Medizinstudium brauchte, für das ich mich inzwischen entschieden hatte.

Inzwischen bin ich im 4. Semester Medizin und es geht mir gut. Ich musste einen 14-monatigen Unterhaltsrechtsstreit gegen meine Mutter führen, da sie mir weder Unterhalt zahlen, noch Unterlagen für einen Bafög-Antrag zur Verfügung stellen wollte. Einer ihrer Begründungen für ihr Handeln war, dass sie sich sicher war, dass „ich mein Studium aufgrund meiner Krankheitsgeschichte sowieso nicht schaffen würde“. So schrieb sie es jedenfalls in einen Anwaltsbrief. Allerdings hatte ich trotz meiner furchtbaren Lebenssituation während der Oberstufe ein 1,4-Abi geschrieben und hatte noch von der Klinik aus an einem Medizinertest teilgenommen und es unter die besten 14% aller Teilnehmer geschafft.. Ich gewann den Gerichtsprozess und habe meine Mutter seit der Verhandlung vor 1,5 Jahren nicht wieder gesehen. Ich bin froh, keinen Kontakt mehr zu ihr haben zu müssen und vermisse sie nicht. Ich habe mich ihren Psycho-Spielchen entgültig entzogen und das war eine der besten Entscheidungen die ich für mich und für das Leben treffen konnte.

 Im Juni 2014 war es ganze drei Jahre her, dass ich meine Exfreundin verließ und damit den Grundstein für ein selbstbestimmtes, glückliches Leben legte. In dieser Zeit hat sich so viel verändert, dass ich manchmal kaum glauben kann, dass all das nicht schon viel länger her ist. Ich habe sehr viel an mir gearbeitet, bin selbstsicherer geworden und komme inzwischen trotz der Traumatisierung ziemlich gut klar. Ich habe mich bewusst dafür entschieden, glücklich zu sein und habe mir Lebensumstände geschaffen, in denen mir das möglich ist. Ich habe gelernt all das Hinterfragen und Analysieren, dass meine Kindheit so schwerfällig machte, für mich zu verwenden, um mich selbst zu verstehen und bewusster zu leben.

Inzwischen habe ich seit 9 Monaten wieder eine Beziehung, mit dem wohl verständnisvollsten, liebevollsten Freund, den man sich vorstellen kann. Zum ersten Mal darf ich erleben, wie wundervoll eine Beziehung sein kann und wie sicher und wohl man sich in der Gegenwart eines anderen Menschen fühlen kann. Ich habe nie gewusst, wie schön es sein kann, in den Armen eines anderen Menschen einzuschlafen, habe nicht einmal gewusst, dass man neben jemandem schlafen kann ohne Angst zu haben, dass er einem jeden Moment etwas antut. Es lagen fast 3 Jahre zwischen den beiden Beziehungen und ich bin für jeden einzelnen Tag davon dankbar. Es war wichtig für mich, erst mit mir selbst klar zu kommen und glücklich zu sein, bevor ich mein Glück mit jemandem teilen konnte. Nur so weiß ich, dass mein Glück nach wie vor immer in meinen Händen liegen wird und mein Leben und Überleben von keiner anderen Person mehr abhängig ist, als von mir selbst. Das ermöglicht mir jetzt eine Beziehung zu führen, in der zwei Individuen vorkommen und ich mich nicht gefühlsmäßig neben einem Partner in Luft auflöse.

Das einzige, was mir in meinem Leben im Moment noch sehr fehlt ist mein kleiner Bruder. Er ist jetzt 12 und meine Mutter hindert uns daran Kontakt zu haben. Ich wünschte, ich könnte ihn aufwachsen sehen und an seinem Leben teil haben. Aber alle Versuche ihn gegen den Willen meiner Mutter zu treffen, würden die Situation für ihn wahrscheinlich nur verschlimmern und das will ich auf keinen Fall. Also warte ich und hoffe, dass wir irgendwann wieder Kontakt haben können.

Ich bin jetzt 21 und habe wahrscheinlich mehr negative Dinge erlebt als die meisten Menschen in meinem Alter. Aber dafür habe ich mich schon mit Fragen des Lebens auseinander gesetzt, die vielen vielleicht noch bevor stehen und konnte schon mit Teilen meiner Vergangenheit abschließen, an denen so manche Menschen ihr halbes Leben lang arbeiten. Deshalb bin ich trotz allem, was mir passiert ist froh, heute der Mensch zu sein der ich bin und das Leben zu haben, für das ich so lange gekämpft habe.“