Dies ist die Geschichte eines kleinen Jungen, der am 02. Juli 2015 in Plattling über einer Toilettenschüssel geboren wurde, Minuten später darin sterben musste und anschließend von seiner Mutter vergraben wurde.
Wir möchten – bevor wir diese Geschichte erzählen – kurz anmerken, dass es uns sehr betroffen macht, dass wir den kleinen Jungen in seiner Geschichte nicht namentlich nennen können, denn er musste die Welt ohne einen Namen und wenige Augenblicke nach seiner Geburt wieder verlassen.
Die 24-jährige Mutter des kleinen Jungen, eine gebürtige Polin, war als Saisonkraft nach Deutschland gekommen und arbeitete als Erntehelferin in Plattling (Landkreis Deggendorf in Niederbayern). In ihrem Heimatland lebte sie in einer Ehe, aus der bereits zwei Töchter hervorgegangen waren. Zu ihren Familienverhältnissen wurde während der späteren Verhandlung bekannt, dass ihr Vater alkoholabhängig war und auch ihr Ehemann, den sie als 19-jährige heiratete, Alkoholprobleme hatte. Offenbar standen auch eine mögliche Scheidung und ein Sorgerechtsstreit um die beiden gemeinsamen Kinder im Raum.
Die Mutter des neugeborenen Jungen, dessen Geschichte wir hier erzählen, wurde in Untersuchungshaft genommen, denn sie musste sich dem Vorwurf stellen, dass sie ihren neugeborenen Sohn direkt nach seiner Geburt am 02. Juli 2015 getötet und anschließend vergraben hatte. Sie wurde wegen Totschlags angeklagt. Daraufhin befand sie sich für sechs Monate in Untersuchungshaft. Zu den Vorwürfen äußerte sie sich während der polizeilichen Vernehmungen nicht.
Gerichtsurteil:
Für die Verhandlung vor dem Deggendorfer Landgericht wurden vier Verhandlungstage angesetzt. Insgesamt wurden acht Zeugen und zwei medizinische Sachverständige geladen.
Die Staatsanwaltschaft forderte für die angeklagte Mutter des kleinen Jungen sechs Jahre Haft wegen Totschlags durch Unterlassung. Sie sah eine Kindstötung als erwiesen. Aus der Anklageschrift ging hervor, dass die Angeklagte am 02. Juli 2015 in den frühen Morgenstunden die Herrentoilette ihrer Beherbergung aufgesucht und dort einen voll entwickelten, atmenden und lebensfähigen Jungen geboren hatte. Dieser hatte eine Körpergröße von 50 cm, wog 3200 Gramm und wurde von ihr unmittelbar nach seiner Geburt auf unbekannte Weise willentlich und wissentlich erstickt und sein Leichnam später auf dem Firmengrundstück zwischen einer Fabrikhalle und einem Rübenacker vergraben.
Die Angeklagte bestritt diese Anschuldigung vehement. Sie selbst äußerte sich nicht zu den Vorwürfen, ließ jedoch vor Gericht ihren Verteidiger für sich sprechen. Dieser gab vor dem Gericht eine ihrerseits verfasste Erklärung ab. Es ging daraus hervor, dass seine Mandantin am 02. Juli 2015 aufgrund von Schmerzen nachts in das Herren-WC der Beherbergung gegangen war, da sie ihre Blase entleeren wollte. Auf der Toilette verspürte sie dann zudem einen Druck und presste, da sie annahm, dass sich auch ihr Darm entleeren wollte. Angeblich wäre ihr dann schon bewusst gewesen, dass etwas nicht stimmen konnte. Aus diesem Grund warf die Angeklagte einen Blick in das Toilettenbecken und stellte überraschend fest, dass darin eine Nachgeburt und ein darunter liegendes Baby lagen. Das Baby hatte nach Angabe der Angeklagten keinen Laut von sich gegeben. Es hatte auch nicht geatmet. Der Verteidiger machte weiterhin deutlich, dass seine Mandantin nichts unternommen hatte, was zum Tod des Babys geführt habe, denn sie glaubte schlichtweg, dass es in dem Toilettenbecken ertrunken war. Zudem hätte sie auch unter Schock gestanden und Angst um ihren Arbeitsvertrag und vor ihrem ebenfalls vor Ort beschäftigten Schwiegervater gehabt. Der Verteidiger gab weiterhin bekannt, dass seine Mandantin sich nach ihren beiden Töchtern schon immer einen Sohn gewünscht hatte und dass sie sich nicht erklären könne, warum sie keine Unternehmungen zur Rettung des Babys vorgenommen hatte.
Am zweiten Verhandlungstag wurden Gutachter und die Kripobeamtin geladen, die die Ermittlungen am Tattag aufgenommen hatte. Eine polizeiliche Sachbearbeiterin sagte aus, dass die Angeklagte angegeben hatte, dass sie im vierten Schwangerschaftsmonat einen Spontanabort erlitten habe. Dies wurde bei einer späteren gynäkologischen Untersuchung jedoch widerlegt.
Als medizinische Gutachterin war eine Oberärztin des Deggendorfer Klinikums geladen, die die Angeklagte nach der Geburt als Notfall behandelt hatte. Sie sagte vor dem Gericht aus, dass die Angeklagte ihr gegenüber angegeben hatte, dass sie eine Fehlgeburt im vierten Schwangerschaftsmonat gehabt habe. Sie hätte der Angeklagten daraufhin mitgeteilt, dass es sich um den neunten Schwangerschaftsmonat gehandelt hatte, doch dazu hätte die Angeklagte sich dann nicht geäußert. Die Oberärztin wurde weiterhin vom Gericht befragt, ob es möglich sei, dass man eine Schwangerschaft quasi komplett verdrängen könne. Diesbezüglich gab diese an, dass es solche Fälle gebe, dass der Angeklagten nach zwei Geburten jedoch bewusst gewesen sein musste, dass es sich um die Geburt eines Kindes und nicht – wie durch die Angeklagte angeben – um eine Entleerung des Darmes gehandelt hatte.
Ein Professor der Rechtsmedizin der Ludwig-Maximilian-Universität München, der als medizinischer Gutachter geladen war, stellte dem Gericht sein Gutachten dar. Darin hieß es unter anderem, dass der Leichnam des kleinen Jungen stark verschmutzt war und dass es sich um ein lebensfähiges und voll entwickeltes Kind gehandelt hatte. Es gab keine Hinweise, die darauf hindeuteten, dass der Tod durch äußere Einwirkungen oder Komplikationen herbei geführt wurde. Er legte weiterhin dar, dass der neugeborene Junge nach seiner Geburt bereits seine ersten Atemzüge getan hatte, denn den Befunden nach waren seine Lungen deutlich belüftet. Zudem war auch die Magenblase belüftet worden. Er räumte ein, dass die rechtsmedizinische Untersuchung jedoch keine zweifelsfreie Todesursache ans Licht gebracht hatte. Der Tod durch Ersticken konnte nicht ausgeschlossen, aber auch nicht belegt werden. Möglicherweise sei der kleine Junge, der mutmaßlich stark unterkühlt war, im Wasser des Toilettenbeckens ertrunken. Der geladene Professor legte weiterhin dar, dass festgestellt wurde, dass die Angeklagte keine Mittel eingenommen hatte, die einen Schwangerschaftsabbruch provoziert hätten. Er vertrat jedoch die Meinung, dass die Angeklagte aufgrund der zwei vorangegangenen Geburten ihrer Töchter sich über den Unterschied einer Geburt und einer Darmentleerung bewusst sein müsste. Offenbar hatte die Angeklagte auch angegeben, dass sie in der Toiletten das Quietschen von Autoreifen gehört hatte, denn der rechtsmedizinische Professor kommentierte diese Aussage und teilte dem Gericht diesbezüglich mit, dass es sich um die Laute des kleinen Jungen gehandelt habe. Dies musste der Angeklagten seiner Auffassung nach ebenfalls bewusst gewesen sein. Er war sich sicher, dass der kleine Junge überlebt hätte, wenn ihn die Angeklagte aus dem Toilettenbecken genommen hätte.
Weiterhin wurde die Angeklagte vor Gericht durch einen Experten als nicht schuldfähig erklärt.
Der Oberstaatsanwalt vertrat eine andere Ansicht und betonte, dass die Angeklagte in ihrer Rolle als Kindsmutter die Garantie für das Leben ihres Kindes gewesen war. Folglich hatte sie den Tod des Neugeborenen verursacht, indem sie es nicht aus dem Toilettenbecken genommen hatte. Weiterhin war die Staatsanwaltschaft davon überzeugt, dass die Angeklagte mit einer bevorstehenden Geburt zum Tatzeitpunkt gerechnet hatte, denn sie hatte ein Handtuch, einen Schere und einen Eimer mit in die Toilette genommen. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft handelte es sich bei dieser Tat um Totschlag durch Unterlassung.
Das Landgericht Deggendorf verurteilte die Angeklagte letztendlich wegen fahrlässiger Tötung zu zwei Jahren Haft. Die Haftzeit wurde zur Bewährung ausgesetzt.
Die Richterin begründete ihre Entscheidung damit, dass es keine Anhaltspunkte für ein aktives Handeln der Angeklagten gab. Der Tod des neugeborenen Jungen hätte zwar nur dadurch verhindert werden können, dass die Angeklagte ihn aus dem Toilettenbecken gehoben hätte, doch die Angeklagte habe sich zu diesem Zeitpunkt in einer Ausnahmesituation befunden. Die Richterin betonte weiterhin, dass sie die Polizeibeamten während der damaligen Ermittlungen sofort zu dem Leichnam des Jungen geführt hatte. Demzufolge spreche ihr Verhalten nicht für eine vorsätzliche Tötung. Die Richterin war zudem davon überzeugt, dass die Angeklagte die von ihr mitgenommenen Schere, den Eimer und das Handtuch erst nach der Geburt des Kindes geholt hatte, um Spuren zu beseitigen.
Die Angeklagte atmete auf, als die Richterin ihr Urteil verkündete und verließ Deutschland als freie Frau. Der Verteidiger forderte eine Entschädigung für die sechsmonatige Haftzeit. Dieser Forderung wurde nicht stattgegeben.
Die Staatsanwaltschaft zeigte sich mit dem Urteil nicht zufrieden und gab an, dass man prüfen werde, ob Rechtsmittel eingelegt werden können.
Wir richten unsere Worte abschließend an das kleine Menschenkind, dessen Geschichte wir hier erzählt haben: Dein Leben wurde Dir binnen Minuten genommen und dennoch hast Du Spuren in unserer Welt hinterlassen. Sie führen direkt in unsere Herzen. Dort ist ein Platz für Dich, dort darfst Du bleiben!