Das ist die Geschichte vom kleinen James Patrick Bulger aus Liverpool. Seinen dritten Geburtstag am 16. März erlebte er nicht mehr. James Leben wurde am 12. Februar 1993 im Alter von zwei Jahren gewaltsam beendet. Seine Mörder waren selbst noch Kinder und gerade mal zehn Jahre alt.
James war ein fröhlicher, aufgeweckter Junge im Alter von zwei Jahren. Er wuchs in einem liebevollen Elternhaus auf und war Einzelkind. James war der ganze Stolz seiner Eltern.
Es ist Freitag, der 12. Februar 1993 in Liverpool; eine große Stadt im Nordwesten von England. James Mutter erledigte im Einkaufszentrum New Strand im Ortsteil Bootle von Liverpool noch ein paar Einkäufe fürs Wochenende. Immer an ihrer Seite ist ihr kleiner Sohn, den alle liebevoll „Jamie“ nannten. Denise hielt ihren kleinen Sohn ganz fest an der Hand, damit er nicht verloren ging. Begleitet wurde sie an diesem Tag von ihrer Schwägerin.
Am Nachmittag gingen sie in eine Metzgerei. Denise gab ihre Bestellung auf, während James mit seinen Blicken neugierig die Umgebung erkundete. Für einen kurzen Moment ließ die junge Mutter ihren kleinen Sohn von der Hand. Sie war mit ihren Gedanken in diesem Moment bei ihren Einkäufen. Ein kurzer Moment, der ihr ganzes Leben veränderte.
James ließ die Hand seiner Mutter los und folgte neugierig zwei zehnjährigen Jungs, die ihn aus dem Geschäft lockten. James sah in den beiden Kindern wohl Spielkameraden.
Als die Mutter nach ihrem Sohn schaute, war dieser spurlos verschwunden. Verzweiflung und Panik kommen in ihr auf. Aufgeregt rannte sie aus dem Laden und rief verzweifelt nach James. Er konnte nicht weit weg sein, denn es war nur ein kurzer Moment, wo sie unachtsam war. Doch James war auf einmal spurlos verschwunden. Sie wandte sich an einen Sicherheitsbeauftragten des Einkaufszentrums. Sofort wurde die Suche nach James mit Hilfe der Polizei und einem Hubschrauber eingeleitet. Ein Medienaufruf folgte kurz darauf. Doch James war wie vom Erdboden verschluckt.
Um 15:38 Uhr erfasste eine Überwachungskamera der Ladenstraße den kleinen James. Er wurde von zwei Personen begleitet. Später stellte man fest, dass es sich bei den Personen um zwei Kinder handelte. Die Bilder der Überwachungskamera waren unscharf, doch Fakt war, dass James in Begleitung zweier Kinder war, als er die Metzgerei verließ. Der kleine arglose Junge verließ mit seinen Entführern das Einkaufszentrum. Sie liefen in Richtung Stadtmitte. James spürte, dass es nicht richtig war, sich so weit weg von seiner Mutter zu entfernen. Er wollte wieder zurück zu ihr. Doch die beiden Jungen zerrten James mit sich.
Die Suche nach James blieb erfolglos. Die Eltern durchlebten die schrecklichsten Stunden ihres Lebens. Der Gedanke, dass ihrem kleinen Sohn etwas zugestoßen sein könnte, brachte sie um ihren Verstand. Es war die Hoffnung, dass James heil wieder nach Hause käme, die ihren Schmerz ein wenig betäubte. Tag und Nacht suchten Einsatzkräfte und freiwillige Helfer nach dem kleinen verschwundenen Jungen.
Zwei Tage nach seinem Verschwinden kam schließlich die traurige Gewissheit. James war tot. Sein kleiner Körper wurde etwa fünf Kilometer von seinem Entführungsort entfernt auf einem Bahndamm gefunden. Ein Zug hatte ihn zweigeteilt. Bei der Obduktion stellte man schließlich fest, welch grausames Martyrium der kleine wehrlose Junge durchleiden musste, ehe seine Leiche auf die Gleise gelegt wurde. Bevor der Tod des kleinen Jungen eintrat, wurde er aufs Schlimmste misshandelt. James wurde in einem Zeitraum von ca. 17:30 Uhr bis 18:45 Uhr gefoltert. Die Täter, die selbst noch Kinder waren, quälten ihr Opfer auf unvorstellbar grausame Weise. Sie bewarfen James mit Ziegelsteinen, traten auf seinen kleinen Körper ein und zertrümmerten mit einer Eisenstange seinen Schädel. Dann schleppten sie ihn auf die Gleise, entkleideten ihn vollständig und ließen den geschundenen Körper von einem Zug überrollen.
Ursprünglich wollten die Täter ihr Opfer in einem Kanal ertränken. Dorthin waren sie zuerst gelaufen, als sie den kleinen Jungen entführt hatten. James hatte Angst und weigerte sich. Er wollte seinen Kopf nicht ins Wasser halten. Die Täter wurden wütend und warfen den Kleinen daraufhin auf den Boden. Dadurch entstanden Verletzungen im Gesichts- und Kopfbereich. Mit Fußtritten gegen die Rippen zwangen sie James zum Weiterlaufen. Sie mussten ihren Plan ändern und liefen weiter in Richtung Bahnschienen wo James letztlich zu Tode kam. Die Täter wollten James Tod wie einen Unfall aussehen lassen. Aus diesem Grund legten sie ihr Opfer quer über die Schienen, um sicher zu gehen, dass er auch tatsächlich von einem herannahenden Zug komplett überrollt werden würde. James war bereits tot, als ein Güterzug über ihn fuhr, zweiteilte und einige Meter mitschleifte.
Welche Verletzungen letztlich zum Tode führten, konnte aufgrund der Vielzahl und Schwere der Verletzungen nicht eindeutig geklärt werden. Der Gerichtsmediziner zählte insgesamt 22 Blutergüsse, Risse und Schürfwunden auf James Gesicht und Kopf. Dazu kamen 20 weitere Wunden an seinem kleinen Körper. Er hatte mehrere Frakturen am Schädel und die rechte Seite war komplett zerschmettert.
Beisetzung
Am 1. März 1993 fanden die Trauerfeier und die Beerdigung des kleinen James statt. Tausende von Menschen legten Gedenkkarten, Blumen und Spielsachen in der Nähe des Fundortes seiner Leiche ab. Auch vor dem Einkaufszentrum, aus dem er entführt wurde, lagen unzählige Blumen, Spielsachen und Karten. Ein ganzes Land trauerte. James Eltern bekamen sehr viele Briefe von Menschen, die Anteil an ihrem tragischen Schicksal nahmen. Die Welt war in Gedanken bei James und seiner Familie.
Gerichtsurteil
Die Täter konnten bereits wenige Tage nach der Tat identifiziert und festgenommen werden. Es waren zwei 10-jährige Jungen, die die Schule schwänzten. Sie machten sich an jenem Tag auf den Weg, um ein Opfer zu finden, das sie töten konnten.
Im Laufe der Untersuchungen wurde festgestellt, dass an der Kleidung der beiden Täter dieselbe blaue Farbe klebte, wie an James Leiche. Die Täter hatten ihrem Opfer bei der Tatausführung die blaue Farbe ins Gesicht geworfen und seinen Mund mit Batterien zugestopft. Eine weitere Form der Erniedrigung.
Hinzu kam das Blut, das an den Schuhen der Täter haftete. Es war das Blut von James. Mittels eines DNA-Tests konnten die Täter schließlich eindeutig als James Mörder identifiziert werden.
Die beiden Täter waren zur Tatzeit erst zehn Jahre alt. Sie wohnten in einer der heruntergekommensten Gegenden Englands.
Der erste Täter hatte noch fünf Geschwister. Der Vater hatte die Familie verlassen. Die Mutter war schwere Alkoholikerin und mit der Erziehung ihrer Kinder komplett überfordert. Die Zustände, die in der Familie herrschten, waren katastrophal. Gewalt stand an der Tagesordnung. Einige Kinder der Familie wollten Suizid begehen, weil sie diese Zustände nicht mehr ertragen konnten.
Die Eltern des zweiten Täters lebten getrennt, doch beide Elternteile kümmerten sich um die Kinder. Er hatte noch einen Bruder und eine Schwester. Allerdings war der Junge hyperaktiv und fiel bereits durch Gewaltausbrüche auf. Er hatte vor dem Mord an James bereits versucht einen anderen Jungen zu erwürgen. Seine Mutter hatte schwere Depressionen und neigte zu Suizidgedanken.
Für beide Täter war Gewalt die Lösung, um ihren angestauten Frust und Hass gegen andere Menschen abzubauen. Die katastrophalen familiären Zustände waren den Behörden bekannt. Solche Existenzen waren in jener Gegend jedoch trauriger Alltag. Die beiden Familien waren daher eine von Vielen.
Die Mörder von James hatten eine verzerrte Wahrnehmung, ein geringes Einfühlungsvermögen und eine schlechte moralische Entwicklung. Es fehlte ihnen an Unrechtsbewusstsein und Empathie. Mitgefühl war ihnen fremd, denn schließlich hatten sie selbst niemals die Erfahrung machen dürfen, dass ihr Gegenüber Mitgefühl für sie empfand. Die Täter flüchteten schon recht früh in eine Welt aus Gewaltfilmen. Gewalt verlieh Macht und Kontrolle. Diese wollten sie offensichtlich ausleben.
Die Hauptverhandlung fand im Preston Crown Court statt.
Im Laufe der Ermittlungen stellte sich heraus, dass mindestens 38 Menschen den kleinen James und seine Mörder gesehen hatten. Manche sahen sogar, dass der kleine 2-jährige Junge am Kopf verletzt war. Er schrie ständig nach seiner Mama. Ein Zeuge beobachtete, wie der kleine Junge von einem der beiden Täter in die Rippen getreten wurde, doch der Zeuge unternahm nichts. Es gab jedoch auch Passanten, welche die 10-jährigen Jungen auf ihr aggressives Verhalten ansprachen. Die Täter redeten sich heraus und behaupteten, dass es sich bei dem 2-Jährigen um ihren kleinen Bruder handelte. Große Brüder, die auf ihren kleinen nervigen Bruder aufpassen sollten. Eine andere Zeugin, welche die beiden 10-jährigen ebenfalls auf James ansprach, erhielt von den Mördern die Ausrede, dass sie den kleinen Jungen gefunden hätten und ihn nun zur nächsten Polizeistation bringen wollten. Einem anderen Zeugen (Schulfreund von einem Täter), der ihnen unterwegs begegnete, erzählten sie, dass der kleine schreiende Junge der kleine Bruder des anderen sei.
Die beiden Täter wurden in einer wie für Erwachsene geführten Gerichtsverhandlung schuldig gesprochen und zu lebenslanger Haft verurteilt. Ihre Strafe mussten sie in einer Jugendstrafanstalt absitzen.
1999 landete der Fall beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wo die Anwälte der beiden Täter Revision eingelegt hatten, da ihrer Meinung nach das Gerichtsverfahren nicht in einer Gerichtsverhandlung für Erwachsene hätte geführt werden dürfen. Des Weiteren klagten die Anwälte, dass die beiden Kindermörder angeblich keine gerechte Gerichtsverhandlung bekommen hätten. Das Gericht fällte sein Urteil zugunsten der Täter. Auch weil die Mindeststrafe von zehn auf 15 Jahre erhöht wurde und dies den Grundsätzen eines Rechtsstaats widerspricht. Nach acht Jahren wurden die Täter begnadigt. Sie erhielten eine lebenslange Bewährung und durften sich untereinander nicht kontaktieren.
Im Jahr 2001 klagte James Vater beim obersten Gericht gegen die bevorstehende Freilassung der beiden Mörder seines Sohnes. Die Entlassung der beiden Mörder, die zwischenzeitlich 18 Jahre alt waren, stand unmittelbar bevor. Die zuständigen Richter ließen jedoch keine Berufung gegen ihr Urteil zu. Die Klage von James Vater wurde abgewiesen. Die Richter begründeten ihre Entscheidung damit, dass die Täter ihre gewalttätige Vergangenheit hinter sich gelassen hätten. Hinter James Mördern lag eine siebenjährige Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt für jugendliche Straftäter. Man ging seitens der Justiz davon aus, dass nun von den Tätern keine Gefahr mehr ausgehen würde.
2001 wurden James Mörder aus der Haft entlassen und bekamen neue Identitäten sowie strenge Bewährungsauflagen. Man wollte den beiden Tätern nach ihrer Haftentlassung die Chance auf ein einigermaßen normales Leben geben.
Während einer der Täter nach seiner Haftentlassung in die Anonymität abtauchte, musste der Andere im Jahr 2013 erneut ins Gefängnis. Er hatte gestanden, 57 kinderpornografische Bilder heruntergeladen und selbst pornografische Bilder von Kindern verbreitet zu haben. Mithäftlinge erkannten in ihm den Kindermörder und setzten ein Kopfgeld auf ihn aus. 2015 wurde er wieder aus der Haft entlassen und erhielt nochmals eine neue Identität.
Nach der Haftentlassung war dieser jedoch wieder in seiner Welt aus Gewalt, Missbrauch und Mordlust gefangen, sodass er im Jahr 2017 wieder straffällig wurde. Im November 2017 musste er wieder ins Gefängnis. Er wurde erneut wegen Besitzes von Kinderpornografie verurteilt. Der Inhalt dieser etwa zehntausend Kinderpornos umfassenden Sammlung schockierte selbst die Richter. Er wurde erneut zu drei Jahren und vier Monaten Haft verurteilt. Es war davon auszugehen, dass er nach seiner Haftentlassung im Jahr 2020 weiterhin seine Fantasien ausleben werden würde. Der Täter forderte zwischenzeitlich eine Gesichtsoperation. Er war davon überzeugt, dass dies der einzige Weg in ein einigermaßen normales Leben für ihn sei. Bislang wurde sein Wunsch nach einem neuen Gesicht nicht erfüllt.
Die Stimmen um den anderen Täter waren stumm geworden. Soweit bekannt, ließ er sich nie wieder etwas zu Schulden kommen. 2006 kam heraus, dass er (damals 23 Jahre alt) eine Freundin hatte. Sie wusste nichts von der Vergangenheit ihres Partners, denn sie kannte ihn nur unter seiner neuen Identität. Mit seiner Freundin gründete er eine Familie.
Gedenken an James Patrick Bulger
Die Sacred Heart Primary School in Kirkby eröffnete für den kleinen James einen Gedenkgarten. Diese Schule hätte er besucht, wenn er nicht ermordet worden wäre.
1994 widmete der amerikanische Komponist Christopher Rouse dem ermordeten James einen Satz in seinem Konzert.
Die irische Band „The Cranberries“ widmete James ein Lied mit dem Titel „The Icicle melts“. Auch die schottische Sängerin Amy Macdonald widmete ihr Lied „Spark“ dem kleinen ermordeten James.
Im Jahr 2007 erschien der Film „Boy A“. Ein britischer Film, der auf dem Mordfall James Bulger beruht.
Im Jahr 2010 erschien ein Buch mit dem Titel „Wer dem Tode geweiht“ von der amerikanischen Schriftstellerin Elizabeth George. Die Geschichte erinnert an den tragischen Fall des kleinen James Bulger.
James Mutter schrieb ein Buch über den schrecklichsten Tag ihres Lebens mit dem Titel „I let him go“. Damit wollte sie ihrem geliebten Sohn für immer ein Denkmal setzen und die Geschichte aus Sicht einer verzweifelten Mutter erzählen, der das Liebste genommen wurde.
Auch James Vater veröffentlichte seinem Sohn zu Ehren ein Buch mit dem Titel „My James“.
1994 veröffentlichte der Autor Mark Thomas das Buch „Alptraum einer Mutter“.
1996 erschien das Buch „Der Schlaf der Vernunft – Der Fall James Bulger – Wahre Schicksale“ von David James Smith.
2012 veröffentlichte David James Smith ein weiteres Buch zu dem Fall mit dem Titel „The Sleep of Reason: The James Bulger Case“.
James Mutter gründete mit ihrem neuen Ehemann die Organisation “James Bulger Memorial Trust”. Deren Ziel ist es, benachteiligte junge Menschen, die Opfer von Verbrechen, Hass oder Mobbing geworden sind, zu helfen und sie zu unterstützen.