Alexander

Dies ist die Geschichte von Alexander. Er starb am 27. November 1997 im Alter von fünf Jahren in Beutelsbach, nähe Stuttgart, an Herz-Kreislaufversagen.

Alexander und sein älterer Bruder lebten in einer Pflegefamilie. Die Pflegemutter war Kinderpflegerin und arbeitete nebenher noch als Tagesmutter. Der Pflegevater war Student der Sozialpädagogik. Beide hatten bereits drei leibliche Kinder. Die Ausbildung des Pflegevaters scheiterte jedoch und das Geld in der Familie wurde knapp. Aus diesem Grund entschloss sich das Paar, Kinder in Pflege bei sich aufzunehmen. Nicht aus Nächstenliebe, sondern einzig und allein um mit dem Pflegegeld den hohen Lebensstandard für sich und ihre drei leiblichen Kinder aufrecht erhalten zu können.

So zog im Jahr 1990 das erste Pflegekind, ein Junge, bei der Familie, welche zu diesem Zeitpunkt noch ihren Wohnsitz im bayrischen Hof hatte, ein. Zwei Jahre später zog die Familie nach Beutelsbach und nahm sodann den kleinen Alexander und seinen älteren Bruder bei sich auf.

Im Gegensatz zu den leiblichen Kindern, die immer genug zu essen hatten und liebevoll umsorgt wurden, mussten die drei Pflegekinder, vor allem wenn sich Besuch ankündigte, in einem dunklen Zimmer ausharren, bekamen kaum etwas zu essen, oftmals auch nur verdorbene Lebensmittel und zum Schluss nur noch trockenes Brot und Wasser.

Die Kinder magerten im Laufe der Jahre immer weiter ab, verhungerten langsam. Um keinen Verdacht zu erregen, erfand die Pflegemutter Lebensmittelallergien und Krankheiten, unter denen die drei Jungen angeblichen litten. Zum Schluss schottete sie die völlig ausgezehrten Kinder fast vollständig von der Außenwelt ab.

Niemand aus dem sozialen Umfeld der Familie will etwas bemerkt haben. Selbst die Schule sah weg. Es fiel zwar auf, dass Alexanders Bruder in dem Müll nach Essen suchte und auch wurde er darauf angesprochen, als er jedoch keine Erklärung für sein Verhalten abgab, forschte die Schule nicht weiter nach.

Nur einmal schritt ein Nachbar ein, allerdings nicht wegen den Pflegekindern, sondern wegen dem Hund der Familie. Er informierte den Tierschutz, dass dieser doch viel zu dünn sei.

Auch die beiden Jugendämter hegten keinen Verdacht. Bis April 1997 wurde die Familie noch von Mitarbeitern des Jugendamtes des Kreis Hof betreut, da dieses noch die Zuständigkeit für das erste Pflegekind, welches im Jahre 1990 in die Familie gekommen war, besaß. Das Waiblinger Jugendamt, welches für Alexander und seinen Bruder zuständig gewesen war, besuchte nicht ein einziges Mal die Familie, um nach den beiden Kindern zu sehen. Als das Waiblinger Jugendamt dann auch die Zuständigkeit für das erste Pflegekind übernahm und das Jugendamt Hof seine Zuständigkeit abgab, erfolgte keinerlei persönlicher Kontakt mehr mit der Pflegefamilie. Die Begründung des Waiblinger Jugendamtes hierzu lautete: Man wollte die Kinder nicht mit neuen Gesichtern unnötig belasten.

Am 27. November 1997 versagte Alexanders Körper auf Grund der Auszehrung. Sein Bauch war aufgebläht, wie bei hungernden Kindern aus Somalia. Er war nicht mehr in der Lage zu sprechen und konnte sich kaum noch bewegen.

Schließlich erbarmten sich seine Pflegeeltern einen Notarzt zu rufen. Doch für Alexander kam jede Hilfe zu spät.

Alexander wog zum Zeitpunkt seines Todes, mit fünf Jahren, gerade noch 7,2 Kilo. Sein Bruder, der durch den Tod von Alexander gerettet werden konnte, wog im Alter von sechs Jahren nur noch 10 Kilo. Das dritte Pflegekind der Familie, der neunjährige Junge wog nur 11,8 Kilo. Auch für ihn kam die Hilfe noch rechtzeitig.

Gerichtsurteil:
Die beiden Pflegeeltern wurden im Juni 1999 wegen Mordes und Misshandlung Schutzbefohlener zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt. Die erstellten Gutachten brachten leider kein Licht ins Dunkel des Motivs für die grausame Behandlung ihrer Pflegekinder. Was während des Verfahrens jedoch ans Licht kam, war die Heimtücke, ein Merkmal des Mordes, da das Schwurgericht eine Vertuschungsabsicht feststellte. Die Pflegeeltern hätten die drei Jungen trotz ihres lebensgefährlichen Zustandes nicht zum Arzt gebracht, um ihre Misshandlungen nicht offenlegen zu müssen.

Das zuständige Jugendamt wehrte sich gegen die Vorwürfe, es hätte sich nach Vermittlung von Alexander und seinem Bruder in die Pflegefamilie nicht mehr um das Wohlergehen der beiden Kinder erkundigt. Laut Jugendamt hätten es keine negativen Erkenntnisse über die Pflegefamilie vorgelegen. Letztendlich wurde das Ermittlungsverfahren gegen das Jugendamt eingestellt.

Wie sehr das Jugendamt aber doch in diesem besonders grausamen Fall versagt hatte, zeugte das spätere Urteil im Fall von Alexanders Bruder. Dieser hatte im Alter von 15 Jahren das damals zuständige Jugendamt des Rems-Murr-Kreises auf Schmerzensgeld und Schadenersatz verklagt. Während im Jahre 1997 das Ermittlungsverfahren gegen das Jugendamt erwartungsgemäß eingestellt wurde, sah das Landgericht als auch das Oberlandesgericht eine eindeutige Mitverantwortung des Jugendamtes am Tod von Alexander und dem erbärmlichen Zustand der beiden anderen Pflegekinder. Natürlich akzeptierte das Jugendamt diese Entscheidung nicht und schließlich entschied der Bundesgerichtshof im Oktober 2004.

Der Bundesgerichtshof bestätigte das Urteil des Oberlandesgerichts, dass das Jugendamt seine Pflicht zur Überprüfung der Pflegefamilie nicht wahrgenommen habe. Obwohl die Pflegefamilie im Jahr 1993 von Hof nach Weinstadt-Beutelsbach gezogen sei, wäre jahrelang kein Besuchstermin erfolgt. Das Jugendamt Rems-Murr-Kreis sah sich entgegen geltender Gesetzeslage nicht zuständig.

Nicht geklärt werden konnte, warum auch bei dem Jugendamt in Hof nie ein Verdacht aufgekommen sei. Im April 1997 wurde in den Akten vermerkt, das Alexanders Bruder „klein und kräftig“ sei. Diese Dokumentation des Zustandes entsprach eindeutig nicht der traurigen Realität.

Alexanders Bruder erhielt ein Schmerzensgeld zugesprochen. Zudem muss der Rems-Murr-Kreis für alle künftigen Schäden des Jungen eintreten, welche auf die Pflichtverletzung des Jugendamtes zurückzuführen sind.