Das ist die Geschichte von Chantal. Sie starb am 16. Januar 2012 in Hamburg an einer Methadonvergiftung.
Chantal wurde im Jahr 2000 geboren. Ihre Mutter war alkoholkrank, ihr Vater drogenabhängig. Acht Jahre später kam Chantal schließlich in eine Pflegefamilie. Chantals neues Zuhause war eine Vier-Zimmer-Wohnung in Hamburg-Wilhelmsburg. Dort lebten bereits die zwei leiblichen Kinder der Familie im Alter von zehn und sechzehn Jahren sowie ein weiteres Pflegekind. Zudem gab es noch die drei Hunde der Familie, ein Staffordshire-Terrier, ein Dobermann und einen Mischling.
Schon im Jahr 2005, als das erste Pflegekind der Familie übergeben wurde, war dem zuständigen Bezirksamt bekannt, dass die Pflegeeltern aufgrund ihrer Drogensucht an einem Substitutionsprogramm teilnahmen. Der Pflegevater hatte sogar wegen Drogenhandels eine Haftstrafe verbüßt. Obwohl die Richtlinien des Bezirksamts verbieten, Kinder in die Obhut einer Pflegefamilie zu übergeben, in deren Leben Drogen eine Rolle spielen, wurde hier eine Ausnahme gemacht. Bei dem Pflegekind handelte es sich um das Enkelkind der zukünftigen Pflegeeltern. Demzufolge wurden die Vor- und Nachteile abgewogen und man entschied sich, trotz der Drogensucht der beiden für den Verbleib des Kindes in dessen sozialen Umfeld, also bei den Großeltern.
Als drei Jahre später Chantal dieser Familie anvertraut wurde, blieb eine erneute Überprüfung der Pflegeeltern durch das zuständige Bezirksamt aus. Man vertraute einfach auf die Einschätzung des freien Trägers VSE, welcher die Pflegeeltern bis Ende 2007 betreute. Der VSE sah zu keiner Zeit Anhaltspunkte für einen Drogenmissbrauch durch die Pflegeeltern.
Insgesamt gab es in den Jahren, in denen Chantal in der Pflegefamilie lebte, mehrere aktenkundige Meldungen an das Jugendamt über Unregelmäßigkeiten in der Familie. Unter anderem wurde das Jugendamt auf den Drogenkonsum der Pflegemutter aufmerksam gemacht und auch ein Vermerk von ungewöhnlich häufigen und lauten Feiern in der Nacht wurde in den Akten vermerkt. Diesen Hinweisen wurde nicht ausreichend Beachtung geschenkt, da das Jugendamt den Eindruck hatte, Nachbarn wollten die Familie diffamieren und mobben. Das bestehende Vertrauensverhältnis zwischen Jugendamt und Pflegefamilie sollte nicht gefährdet werden.
Eine Nachbarin berichtete später im Prozess, dass beide Pflegekinder sklavenähnlich gehalten worden seien. Lediglich wenn das Jugendamt einen Besuchstermin abstattete, wurde Chantal hübsch angezogen. Laut Aussagen der Nachbarin war Chantal auch immer hungrig und hatte müde Augen. Auch soll jeder gewusst haben, dass die Pflegemutter Drogen genommen habe. Die Nachbarin selbst habe auch das Jugendamt informiert.
Chantals Halbschwester sagte vor Gericht aus, dass die Pflegekinder mit Zeitungsaustragen Geld verdienen mussten. Dieser Lohn hierfür wurde ihnen allerdings abgenommen.
Die Familie wurde in regelmäßigen Abständen von Sozialarbeitern aufgesucht. Teilweise wurden die Besuche angekündigt, manchmal auch nicht. Am 04. Januar 2012 erhielt die Familie letztmalig Besuch von einem Sozialarbeiter. Die Wohnung sei verwahrlost gewesen, jedoch nicht unhygienisch.
Am Abend des 15. Januar 2012 klagte Chantal über Unwohlsein und Übelkeit. Da niemand Chantals Unwohlsein Beachtung schenkte, machte sie sich selbst auf die Suche nach einem geeigneten Mittel, welches ihrer Übelkeit Linderung verschaffen würde. Sie hatte einmal gehört, dass Tabletten helfen sollten und fand dann eine von ihren Pflegeeltern liegen gelassene Methadontablette, welche sie einnahm.
Chantal wusste nicht, dass es sich bei dieser Tablette um die Ersatzdroge ihrer Pflegeeltern handelte und ihr diese nicht helfen würde. Später fiel Chantals Pflegevater zwar auf, dass es seiner Pflegetochter schlecht ging, jedoch kümmerte er sich nicht weiter um Chantal. Auch dachte er sich nichts dabei, als er Chantal am nächsten Morgen nicht wie gewohnt um 06.30 Uhr wecken konnte. Als Chantal gegen 11.30 Uhr noch immer nicht aufgewacht war, verließ ihr Pflegevater die Wohnung, ohne noch einmal nach Chantal zu sehen. Er wusste, dass auch Chantals Pflegemutter nicht daheim war und erst am späten Nachmittag wieder in die Wohnung zurückkehren würde. Somit war niemand bei Chantal, der ihren Zustand hätte bemerken und ihr hätte helfen können.
Am Nachmittag verstarb Chantal an den Folgen der Methadonvergiftung. Chantal hätte mit großer Wahrscheinlichkeit gerettet werden können, hätte ihr Pflegevater Chantal nicht einfach alleine gelassen, sondern medizinische Hilfe geholt.
Wie später bekannt wurde, lebte Chantal mit dem Wissen des Jugendamtes in katastrophalen Verhältnissen. Chantal hatte kein eigenes Zimmer, keinen Schrank und besaß noch nicht einmal ein eigenes Bett.
Auch Mitarbeiter der „Wilhelmsburger Tafel“, bei der Chantals Pflegemutter rund sieben Jahre in der Essensausgabe für Bedürftige arbeitete, erhob schwere Vorwürfe gegen die Behörden.
So sagte eine Mitarbeiterin über Chantals Pflegemutter, dass diese offene Arme und Beine gehabt habe, welche vernarbt und entzündet gewesen seien. Auch wäre immer wieder Geld aus der Kasse der Tafel verschwunden. Daraufhin wurde Chantals Pflegemutter Ende 2009 gekündigt.
Die weiteren Ermittlungen ergaben, dass insgesamt 31 Methadontabletten im Besitz der Pflegeeltern gefunden wurden. In der Regel werden diese Tabletten den Patienten direkt in der Arztpraxis verabreicht. In Ausnahmefällen darf allerdings eine Wochendosis von höchstens 10 Stück ausgehändigt werden unter Berücksichtigung der familiären Verhältnisse. Warum Chantals Pflegeeltern eine derart hohe Anzahl an Tabletten zur Verfügung stand und wie es dazu kam, wurde nicht überprüft und war nicht Gegenstand der Ermittlungen.
Die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen gegen das Jugendamt und den freien Träger VSE wegen dem Verdacht der Verletzung der Fürsorgepflicht auf. Chantal hätte nach geltendem Gesetz nicht in die Obhut drogenabhängiger Pflegeeltern übergeben werden dürfen.
An der Leiterin des Jugendamtes kamen bereits im Jahr 2009 Zweifel auf, nachdem die neun Monate alte Lara- Mia unter ihrer Leitung und Aufsicht des Jugendamtes an Unterernährung verstarb. Schon damals sollte die Leiterin versetzt werden. Da aber keine geeignete Stelle für sie gefunden wurde, blieb sie im Amt. Nach Chantals Tod wurde sie von ihren Aufgaben frei gestellt.
Der zuständige Bezirksamtsleiter sagte am 25. Januar 2012 in einem Gespräch mit dem NDR 90.3, dass Chantal nicht gefährdet gewesen sei, ihr wäre es gut ergangen bis zum Schluss. Das sie tot sei, wäre tragisch.
Zu seiner Verantwortung am Tod von Chantal sagte er, dass er keine persönliche Schuld sehe. Auf Druck der Öffentlichkeit trat er jedoch am 10. Februar 2012 von seinem Amt zurück.
Am 30. Januar 2012 wurden die Kriterien für Pflegeeltern in Hamburg noch einmal verschärft. So müssen Pflegeeltern vor der Aufnahme eines Kindes zukünftig ein erweitertes Führungszeugnis sowie ein Gesundheitszeugnis mit Drogentest vorlegen. Im März 2010 wurden sodann 1.400 Akten von Pflegekindern überprüft, 100 Hausbesuche wurden durchgeführt und 75 Gespräche mit Eltern und Pflegeeltern geführt. Wegen Suchtproblemen von Pflegeeltern wurden zwei Kinder aus einer Familie genommen.
Zu einem Schweigemarsch am 03. Februar 2012 für Chantal und die 2009 verstorbene Lara-Mia kamen an die 400 Menschen.
Beisetzung:
Die Trauerfeier für Chantal fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit am 07. Februar 2012 im Beisein von 30 Familienangehörigen in der Evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde St. Raphael Kreuzkirche Kirchdorf statt.
In einem weißen Sarg wurde Chantal am Rande eines kleinen Friedhofes im Stadtteil Hamburg-Wilhelmsburg beigesetzt. Auch Chantals leiblicher Vater war unter den Trauergästen. Auf dem Schriftzug des Blumengesteckes ihres Vaters und den vier Geschwistern stand:
„Du bleibst immer in unseren Herzen und Gedanken“
Chantals leibliche Mutter war bereits im Mai 2010 verstorben.
Gerichtsurteil:
Im September 2012 wurde wegen fahrlässiger Tötung und Verletzung der Fürsorgepflicht Anklage gegen die Pflegeeltern von Chantal erhoben. Die Anklage gegen die Pflegemutter wurde dann auf Entscheid vom Landgericht wieder fallen gelassen. Im August 2013 korrigierte allerdings das Oberlandesgericht diese Entscheidung, wodurch sich Chantals Pflegemutter nun doch vor Gericht verantworten musste.
Nach Überzeugung des Gerichts hätte auch sie als Pflegemutter sicherstellen müssen, dass die Methadontabletten sicher und für Kinder unzugänglich aufbewahrt wurden.
Im Februar 2015 wurden die Pflegeeltern wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Der Pflegevater erhielt eine Strafe von einem Jahr auf Bewährung. Die Pflegemutter acht Monate auf Bewährung.
Das Gericht begründete dieses Urteil damit, dass die Pflegeeltern im Prozess Reue gezeigt hätten und vor allem der Pflegevater unter der Medienberichterstattung über den Tod von Chantal gelitten habe und zudem seine Arbeitsstelle verlor.
Die Staatsanwaltschaft sowie auch die Verteidigung wollten gegen dieses Urteil Revision einlegen. Dies ist aber nie geschehen.
Konsequenzen gab es für den Bezirksamtsleiter und die Jugendamtsleiterin. Beide mussten zurücktreten.