Das ist Angelos Geschichte. Er starb mit noch nicht einmal vier Jahren am 27. Mai 2003 nach elftägigem Leiden. Er hatte sich schwer verbrannt und ein Drittel seiner Haut war zerstört. Er starb daheim auf einer Matratze, die mit seinen Wundsekreten getränkt war.
Angelos Mutter hatte im Alter von 36 Jahren bereits neun Kinder von unterschiedlichen Männern zur Welt gebracht. Ein Kind verstarb im Säuglingsalter am plötzlichen Kindstod, ein anderes Kind wurde ihr bereits entzogen und in einer Pflegefamilie untergebracht. Mit ihren verbliebenen sieben Kindern lebte sie in Fritzlar bei Kassel. Angelos Vater saß wegen Betrugs im Gefängnis.
Seit Jahren wusste das Jugendamt, der Kinderarzt und der Hausarzt über die problematischen Familienverhältnisse Bescheid. Jeden zweiten Tag sollte eine Sozialarbeiterin die Familie aufsuchen, nach dem Wohlergehen der Kinder schauen und die Mutter im täglichen Leben unterstützen.
Niemand bemerkte jedoch, dass Angelos Mutter kurz vor einem Zusammenbruch stand. Der Haushalt, die Pflege und Versorgung der Kinder, sowie deren Förderung und Erziehung überforderte sie restlos. Doch gestand sie sich dies nicht ein, sie wollte keines ihrer sieben Kinder ans Jugendamt verlieren, obwohl die Wohnung in einem katastrophalen Zustand war. Hunde- und Katzenkot, schon mit Schimmel überzogen lagen überall herum, in den Kinderzimmern stank es nach Urin und die restlichen Räume verwahrlosten und waren kein Ort, an dem Kinder aufwachsen sollten. Auch mit Angelo hatte sie ihre Schwierigkeiten. Sie kam nicht damit zurecht, wenn er seinen Kopf mit voller Wucht gegen die Stäbe seines Bettes knallte oder wenn er nachts den Kühlschrank ausräumte und dann mit dem Essen die Wände beschmierte.
Die Sozialarbeiterin sah von all dem jedoch nichts. Zehn Stunden hatte sie wöchentlich für die Familie zur Verfügung, um Gespräche zu führen, Einkäufe zu erledigen, bei Behördengängen zu helfen, Telefonate zu führen, Arzttermine wahrzunehmen oder als Fahrdienst zu fungieren. Sie machte sich nicht die Mühe, die Wohnräume zu inspizieren oder gar einmal nach dem Befinden der Kinder zu sehen. In der Regel wartete sie nur an der Haustür, bis Angelos Mutter oder einzelne Kinder herauskamen, um die Besorgungen mit ihr zu erledigen. Dass Angelos Mutter zwischenzeitlich auch stark medikamentenabhängig wurde, bemerkte sie ebenfalls nicht.
Wochenlang war kein warmes Wasser in der Wohnung verfügbar, da die Rechnungen von Angelos Mutter nicht bezahlt worden waren. Erst als der Heizkostenzuschuss vom Amt übernommen wurde, konnte die Mutter die Öllieferung bezahlen und somit auch wieder warmes Wasser beziehen.
An einem Nachmittag im Mai 2003 konnte somit endlich wieder geduscht werden. Die älteren Kinder sollten den Anfang machen, während Angelos Mutter im Keller die Waschmaschine ausleerte. Unten im Keller hörte sie einen lauten Schrei, sie rannte hoch in die Wohnung und fand ihren Angelo in der Dusche, verbrüht am Kopf, im Gesicht, am Oberkörper, an den Armen. Er schrie, brüllte, weinte, denn 30 Prozent seiner Haut waren verbrannt.
Angelos Mutter cremte ihn mit einer Fettsalbe ein, machte Quarkwickel, weil sie dachte, dass dies helfen würde. Jedoch konservierte der Quark die Hitze an den verbrannten Stellen von Angelos Körper und bereitete dem Jungen unerträgliche Schmerzen. Es wurde kein Arzt gerufen, nicht an dem Tag und auch nicht zehn Tage später, als Angelo schließlich den Folgen der Verbrennungen erlag. Elf Tage musste er Qualen leiden. Er lag auf seiner Matratze im Kinderzimmer, auf einem Augen erblindet, die Brandwunden nässten und schmerzten bis zur Unerträglichkeit, doch seine Mutter erbarmte sich nicht, holte keine Hilfe. Später sagte sie, sie habe Angst gehabt, dass ein Arzt ihr vorwerfen könnte, ihren Angelo absichtlich verbrüht zu haben und dass sie daraufhin alle Kinder verlieren würde.
Tatsächlich konnte nie geklärt werden, ob Angelo sich die Verbrennungen selbst zugefügt hatte oder ob er verbrüht wurde. Auch die Familienhelferin, die in dieser Zeit mehrfach für Besorgungen an der Tür klingelte, bekam von Angelos Qualen nichts mit, sie verließ sich auf die Aussagen der Mutter, dass Angelo schliefe. Sich selbst zu vergewissern, ob wirklich alles in Ordnung war, tat sie nicht. Nach Tagen erwähnte die Mutter gegenüber der Familienhelferin dann, dass Angelo tot sei.
In diesem Fall wurde nicht versucht, herauszufinden, was an diesem Nachmittag wirklich geschah. Ob Angelo hätte gerettet werden können, wenn nicht alle anderen Beteiligten geschwiegen hätten, wurde nicht geklärt. Lediglich gegen die Mutter wurde Anklage erhoben, nicht jedoch gegen das Jugendamt, die Sozialarbeiterin, den Kinderarzt, den Hausarzt. Sie alle wurden nur als Zeugen geladen und sagten aus, sie hätten nichts gesehen und nichts gewusst. Im Prozess ging es einzig und allein um die Schuld der Mutter, die wegen Unterlassen den Tod von Angelo zu verantworten hatte, nicht aber um die Mitschuld der Organe, die ebenfalls für den Schutz von Angelo und seinen Geschwistern eingesetzt wurden.
Details wurden nicht beachtet. Der Gerichtsmediziner hatte seine Zweifel am Duschunfall. Unwahrscheinlich, dass sich ein dreijähriger Junge mehrere Minuten unter mindestens 50 Grad heißes Wasser stelle, sodass diese schwerwiegenden Verbrennungen überhaupt erst hätten entstehen können. Ist er vielleicht doch von seiner Mutter misshandelt worden oder wurde er von seinen Geschwistern festgehalten? War vielleicht die Dusche defekt, sodass die Wasseraustrittstemperatur bei über 60 Grad lag und somit auch wenige Sekunden für diese Verbrennungen ausgereicht hätten? Aber wie sollte man dies, nach viereinhalb Jahren die zwischen Angelos Tod und Prozessbeginn nun verstrichen waren, noch herausfinden? Niemand konnte sich mehr genau erinnern, Beweise waren längst verschwunden und Angelos Geschwister verweigerten ihre Aussage. Der Kinderarzt sagte vor Gericht, dass er schon im Dezember 2002 starkes Untergewicht und Entwicklungsverzögerungen bei Angelo festgestellt hatte. Misshandlungen schloss er zwar zu diesem Zeitpunkt aus, jedoch waren diese in seinen Augen nicht unmöglich. Als Angelo nicht mehr zu den vereinbarten Folgeuntersuchungen kam, wurde nichts unternommen und niemand informiert. Auch der Hausarzt wusste, dass Angelos Mutter aufgrund der Einnahme starker Schmerzmittel in eine drohende Medikamentensucht fiel und riet ihr an, doch einen Entzug zu machen. Allerdings stellte er ihr aber gleichzeitig weitere Medikamente aus, welche sie telefonisch bei ihm bestellte. Der Hausarzt unterließ es, sich persönlich ein Bild über die Situation zu machen.
Brandverletzungsexperten gaben an, Angelo könnte noch leben. Wäre er medizinisch versorgt worden, hätten seine Wunden geheilt werden können. Doch von Angelos Leid bekam niemand etwas mit, das behördliche Netz der Hilfe hatte versagt.
Gerichtsurteil:
Angelos Mutter wurde schließlich im Dezember 2007 wegen Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit Misshandlung von Schutzbefohlenen schuldig gesprochen und zu vier Jahren Haft verurteilt.
Die einzige Konsequenz, welche das Jugendamt aus dem Tod von Angelo zog, war, sich von der Familienhelferin zu trennen. Ein Wort des Bedauerns oder Selbstzweifel waren seitens des Jugendamtes nicht zu vernehmen.
Am Ende des Prozesses gestand sich die Mutter ihre Schuld ein und würde, wenn es möglich wäre, das Schicksal mit Angelo tauschen.