Dies ist die Geschichte eines kleinen Jungen, der am 12. September 2014 eingewickelt in einer Plastiktüte und einem Stoffbeutel in Willich-Anrath tot aufgefunden wurde und dessen Geburtsdatum seine Eltern nicht benennen konnten.
Wir möchten – bevor wir diese Geschichte erzählen – kurz anmerken, dass es uns sehr betroffen macht, dass wir den kleinen Jungen in seiner Geschichte nicht namentlich nennen können, denn er musste die Welt ohne einen Namen wieder verlassen.
Die Mutter des kleinen Jungen war zum Zeitpunkt seiner Geburt zwanzig Jahre, sein Vater neunzehn Jahre alt. Über den Vater wurde im Nachhinein bekannt, dass er aus geordneten Familienverhältnissen stammte, es jedoch auch Brüche in seiner Biografie gegeben hatte. Die Mutter hatte offenbar kein gutes Verhältnis zu ihrem Elternhaus. Das Paar bewohnte mit weiteren Familienangehörigen ein Haus in Willich. Sie lebten dort im Hause der Großeltern des zukünftigen Vaters des kleinen Jungen, in dem ebenfalls seine Tante und ihr Mann wohnten. Dort lebten sie sehr zurückgezogen. Das traurige Schicksal des kleinen Jungen, dessen Geschichte wir hier erzählen, begann bereits vor seiner Geburt, denn die Schwangerschaft war für beide Elternteile ungewollt. Die Mutter, die eine Raucherin war, änderte keine ihrer Lebensweisen. So rauchte sie während der Schwangerschaft weiter und trank auch Alkohol. Ihre Schwangerschaft verleugnete sie vehement. Nichtsdestotrotz wuchs der kleine Junge in ihrem Bauch heran und irgendwann war der Babybauch nicht mehr zu übersehen. Aufgrund ihrer ungünstigen Lebenssituation, so erklärte es das Paar später in seiner Verhandlung, wollten die Eltern ihr zukünftiges Baby definitiv nicht behalten. Daher besprachen sie – nach Auffassung der Staatsanwaltschaft – bereits während der Schwangerschaft die eine oder andere Maßnahme, um das zukünftige Neugeborene nicht aufnehmen zu müssen. Sie sprachen über Babyklappen und Adoption, zogen jedoch keine dieser Möglichkeiten für ihr Baby in Betracht. Als eines Tages, es muss einer der ersten Augusttage 2014 gewesen sein, die Wehen einsetzten und sich der kleine Junge auf den Weg machte, um sein Leben zu beginnen, zog sich die Mutter in das Badezimmer zurück und gebar ihren kleinen Sohn. Der Vater wartete vor der Tür und brachte auf Wunsch der Mutter eine Schere und eine Plastiktüte. Die Mutter schnitt dem kleinen Jungen mit der Schere in den Hals. Der neugeborene Junge wurde in diesem Zustand in eine Plastiktüte, einen schwarzen Müllbeutel gewickelt und zusätzlich in einen Stoffbeutel gelegt, der mit zwei insgesamt 4,7 kg schweren Spaltkeilen beschwert wurde. So brachte der Vater den kleinen Jungen zum Flöthbach im Stadtteil Anrath und deponierte den Stoffbeutel, und somit seinen kleinen neugeborenen Sohn, unter einer Brücke.
Es vergingen einige Wochen. Schließlich wurde der Stoffbeutel von einem Mitarbeiter des Wasserverbandes, der in diesem Bereich mit Mäharbeiten beschäftigt war, gefunden und aus dem Flöthbach gezogen. Er schenkte dem Stoffbeutel jedoch keinerlei Bedeutung und ließ ihn im Uferbereich liegen.
Immer wieder passierten Anwohner diese Stelle, einige von ihnen registrieren den Stoffbeutel, andere nicht. Diejenigen, denen der Stoffbeutel aufgefallen war, hielten ihn jedoch schlichtweg für Müll. Teilweise mussten auch Hundebesitzer ihre Hunde von dem Beutel regelrecht fern halten.
In den Abendstunden des 12. Septembers 2014 spielten ganz in der Nähe am Klörather Weg in Willich-Anrath Kinder und warfen ihre neugierigen Blicke in den Stoffbeutel. Darin fanden sie das Baby.
Den kleinen neugeborenen Jungen, der sich wenige Wochen zuvor auf den Weg gemacht hatte, um sein Leben zu beginnen und von dem nunmehr ein stark verwester Leichnam übrig geblieben war. Die Kinder alarmierten einen ihrer Väter und der Fund wurde der Polizei gemeldet.
Die Kripo Mönchengladbach gründete die Ermittlungskommission „Flöth“ , die fieberhaft nach den leiblichen Eltern des kleinen Jungen fahndete. Ein Hubschrauber suchte das Gelände rund um den Flöthbach ab. Es wurden Fahndungsplakate veröffentlicht, auf denen die Polizei alle bisherigen Erkenntnisse um den traurigen Tod des kleinen Jungen offenlegte und um die Mithilfe der Bevölkerung bat. Zudem gingen Beamte mit Handzetteln von Tür zur Tür und befragten die Anwohner in persönlichen Gesprächen. Die Bürger der Region wurden ebenfalls per Facebook zur Mithilfe aufgerufen. Es gingen zahlreiche Hinweise ein.
Das Obduktionsergebnis ergab zwischenzeitlich, dass der kleine Junge lebensfähig und reif geboren worden war, eine Größe von 52 cm und ein Gewicht von 2000 Gramm hatte. Es stand fest, dass er sich mindestens seit dem 14. August 2014 im Flöthbach befunden haben musste. Der genaue Todeszeitpunkt konnte jedoch nicht mehr ermittelt werden, da der Flöthbach unterschiedliche Wasserstände hatte und der kleine Körper bereits zu sehr verwest war. Die Hautfarbe konnte daher ebenso wenig ermittelt werden wie die genaue Todesursache. Es war auch unklar, ob der kleine Junge fachmännisch abgenabelt worden war.
Im Laufe der Ermittlungen deuteten dann immer mehr Hinweise darauf hin, dass die Mutter des kleinen Jungen aus der unmittelbaren Umgebung war und dass sie höchstwahrscheinlich einen Komplizen gehabt haben musste. Diese Informationen wurden unter anderem durch den Leiter der „EK Flöth“ auf einer Pressekonferenz bekanntgegeben.
Entscheidende Hinweise erhielten die Ermittlungsbeamten dann durch Familienangehörige des Vaters, die während der späteren Verhandlung dann auch als Zeugen geladen waren. Zwischenzeitlich hatten die Eltern des kleinen getöteten Jungen ihren Wohnort verlassen. Die Mutter war nach Mönchengladbach und der Vater nach Dortmund verzogen. Im Zuge der Ermittlungen wurden die Telefone des Paares abgehört. In einem Gespräch wurde die Geburt erwähnt. Beide wurden daraufhin zu einem Speicheltest gebeten, um die DNA zu überprüfen. Schnell stand fest, dass man die leiblichen Eltern des kleinen Jungen aus dem Stoffbeutel gefunden hatte. Der Vater gestand unmittelbar bei seiner Festnahme die Tat. Die Mutter hingegen verleugnete abermals und vehement ihre Schwangerschaft und führte mehre Argumente an, die belegen sollten, dass keine Schwangerschaft bestanden hatte. Erst als die Beamten sie mit dem Geständnis ihres Partners konfrontierten, gab sie ebenfalls ein Geständnis ab.
Gerichtsurteil:
Das Paar wurde wegen gemeinschaftlichen Totschlags angeklagt und dem Jugendstrafrichter vorgeführt. Laut Anklageschrift wurde ihnen vorgeworfen, dass die Tötung bereits während der Schwangerschaft gemeinsam geplant und der kleine Junge unmittelbar nach seiner Geburt im Toilettenwasser ertränkt wurde. Der angeklagte Vater verbrachte seine Untersuchungshaft im Jugendgefängnis in Heinsberg, die angeklagte Mutter in Köln.
Im März 2015 musste sich das Paar vor der Krefelder Schwurgerichtskammer für seine Tat verantworten. Es wurden vier Verhandlungstage angesetzt, der Prozessauftakt erfolgte am 09. März 2015.
Am ersten Verhandlungstag ließ die mittlerweile 21-jährige angeklagte Mutter des kleinen Jungen durch ihre Verteidigerin verkünden, dass sie keine weiteren Fragen zu der Tat beantworten würde. So blieben viele Fragen offen, denn sie schwieg zu den Vorwürfen.
Am darauffolgenden Verhandlungstag erhielt das Gericht dann doch Antworten, denn die Angeklagte brach ihr Schweigen. Sie gab an, dass ihr nicht bewusst gewesen war, dass die Geburt ihres Kindes am Tattag bevorstand. Sie hätte sich lediglich aufgrund von ganz gewöhnlichen Unterleibsschmerzen auf die Toilette zurückgezogen. Die Geburt sei dann zeitnah erfolgt und das Baby wäre direkt in das WC-Becken gefallen. Weiterhin gab die Angeklagte an, dass sie das Baby dann aus dem WC-Becken herausgeholt hatte. Als die Richterin eine Nachfrage zum Aussehen des Babys stellte, rang die Angeklagte um Fassung und es wurde eine kurze Unterbrechung der Verhandlung angesetzt. Mit den Worten „Sie schafft es nicht“ übernahm dann wieder die Verteidigerin die Beantwortung aller weiteren Fragen. Sie führte an, dass das Paar während der Schwangerschaft nicht konkret über eine Tötung ihres zukünftigen Neugeborenen gesprochen hatte. Es sei nichts miteinander abgesprochen gewesen und es hätte auch keinen Plan gegeben. Die Angeklagte hätte zwar mal geäußert, dass das heranwachsende Kind kein Recht auf ein Leben hätte, aber der Angeklagte hätte dies beispielsweise gar nicht ernst genommen. Unterm Strich könne man also sozusagen von einer stillschweigenden Übereinkunft ausgehen. Dass das Baby sterben sollte, wurde erst während der Geburt beschlossen. Die Richterin ließ nicht locker und bemühte sich darum, dass die Angeklagte selbst wieder das Wort aufnahm. Daraufhin gab die Angeklagte an, dass sie das Baby nach der Geburt auf ein Handtuch gelegt und mit der Schere in den Hals geschnitten habe. Dieser Schnitt sei ihren Angaben nach tief gewesen. Es hatte jedoch nicht übermäßig geblutet und hatte Ähnlichkeiten zum Ritzen an ihrem eigenen Körper aufgewiesen. Anschließend habe sie dann den Puls kontrolliert und die Erkenntnis erlangt, dass das Baby tot sei. Pulskontrollen kannte die Angeklagte noch aus ihrer abgebrochenen Ausbildung zur Tierarzthelferin. Schreie habe sie nicht wahrgenommen, nur ein Röcheln. Sie gab ihrem Freund, dem Angeklagten, die Tüte mit dem toten Baby. Wo genau er es ablegen sollte, wurde nicht gemeinsam besprochen. Die Angeklagte ergänzte ihre Aussage damit, dass sie niemals geäußert habe, dass sie ihr Baby im Toilettenwasser ertränkt habe. Außerdem spielte sie nach der Tat selbst mehrere Tage mit dem Gedanken, sich etwas anzutun. Sie wünschte sich, dass dies nie passiert wäre. Das der Gedanke der Nutzung einer Babyklappe verworfen wurde, rechtfertigte die Angeklagte damit, dass sie im Internet erfahren hatte, dass die nächste Babyklappe nur per PKW, nicht aber fußläufig zu erreichen gewesen sei.
Der angeklagte Vater des kleinen Jungen war zum Zeitpunkt der Verhandlung zwanzig Jahre alt. Er ließ seinen Verteidiger sprechen. Dieser gab an, dass der Angeklagte mit der Situation überfordert gewesen war. Die Schwangerschaft hätte er erst sechs bis acht Wochen vor der Geburt bemerkt. Die Angeklagte habe Druck auf ihn ausgeübt und damit gedroht, dass sie ihn verlassen würde. Auch gab er an, dass eine Tötung des Babys keine beschlossene Sache war. Das dieser Fall jedoch tatsächlich eintreten könnte, sei ihm jedoch klar gewesen. Er trug die Hoffnung, dass seine Partnerin der Mut zu diesem Vorhaben verlassen würde. Er erhoffte sich eine andere Lösung. Während der Geburt stand er vor der Badezimmertür und bot seiner Partnerin auch das Herbeirufen eines Rettungswagens an. Auf ihren Wunsch hin brachte er ihr eine Schere und eine Plastiktüte. Er ging von einer Kurzschlussreaktion seiner Partnerin aus. Noch heute sei er zutiefst erschüttert und wirft sich selber vor, dass er nicht die Reißleine gezogen hatte.
Als Zeugin waren Familienangehörige, die mit den Angeklagten ein gemeinsames Haus bewohnten, geladen. Sie gaben an, dass ihnen der wachsende Babybauch der Angeklagten aufgefallen war. Da die Angeklagte selbst jedoch einen sehr ungesunden Lebensstil führte, hätten sie angenommen, dass das Baby verstorben sei, als der Babybauch eines Tages nicht mehr vorhanden war. Niemals hätten sie gedacht, dass so etwas passiert war.
Die Verteidigung verlangte eine Freiheitsstrafe, die zwei Jahre nicht überschreiten sollte. Sie führte an, dass die Angeklagte psychisch erkrankt war und dass sie ihr zukünftiges Baby nicht gewollt habe, weil sie nicht wusste, wie sie ihm eine gute Mutter sein sollte. Dies hätte sie, so die Angaben der Angeklagten, im Elternhaus nicht gelernt. Zudem hätten die Eltern der Angeklagten dieser immer wieder angedroht, dass sie ihr – wenn die Angeklagte schwanger sein sollte – das Baby aus dem Bauch treten würden.
Die Staatsanwältin gab an, dass die Tat besonders verwerflich gewesen war, weil es sich um ein wehrloses Baby gehandelt hatte. Die Angeklagte hätte möglicherweise zur Tatzeit jedoch an einer psychischen Störung gelitten.
Es blieb dabei, dass bei der rechtsmedizinischen Untersuchung die genaue Todesursache nicht belegt werden konnte. Der Körper des kleinen Jungen war beim Auffinden bereits zu sehr zersetzt gewesen. Ein Mediziner gab vor Gericht an, dass auch eine natürliche Todesursache nicht auszuschließen sei.
Möglicherweise sei das Baby bereits im Mutterleib durch vergiftetes Fruchtwasser geschädigt worden. Eine Tötung durch die Eltern konnte somit weder belegt noch ausgeschlossen werden. Der Schnitt, den die Angeklagte ihrem kleinen Sohn zugefügt hatte, war oberflächlich erfolgt und keinesfalls tödlich gewesen.
Die Richterin stellte klar, dass die Lage des Paares nicht aussichtslos gewesen war, denn es hätte ein Netz aus Freunden und Verwandten gegeben. Dass das Paar über Alternativen wie Adoption und Babyklappe gesprochen hatte, bewerte sie als lediglich halbherzige Versuche. Weiterhin sei es zwar nur die angeklagte Mutter gewesen, die die Schere entgegengenommen hatte, aber da der angeklagte Vater vor Tür gestanden hatte, hatte er die Tat gebilligt. Ihm wurde weiterhin zur Last gelegt, dass er den kleinen Jungen dann in dem Stoffbeutel am Flöthbach abgelegt hatte. Die Richterin betonte, dass man die beiden Angeklagten nicht mit Erwachsenen gleichsetzen konnte. Zur Tatzeit hätte eine Reifeverzögerung bestanden. Eine Freiheitstrafe sollte nicht wegen schädlicher Neigungen, sondern wegen einer besonderen Schwere der Schuld verhängt werden. Beide Angeklagten seien nicht vorbestraft, eine Wiederholungsgefahr würde nicht bestehen. Eine Tötungsabsicht sah die Richterin bei beiden Angeklagten als erwiesen. Doch wodurch der kleine Junge dann tatsächlich verstorben sei, konnte nicht mehr eindeutig geklärt werden.
Daher wurden beide Angeklagten wegen versuchtem Totschlag zu drei Jahren Jugendhaft verurteilt. Die Jugendstrafe solle erzieherisch wirken, so die Richterin. Eine Strafmaßbemessung nach Erwachsenenstrafrecht wäre deutlich höher ausgefallen.
Das Geburts- und Todesdatum des kleinen Jungen blieb unklar. Seine Eltern gaben an, dass sie keine Erinnerung mehr an diesen Tag hätten. Möglicherweise haben sie es verdrängt.
Wir richten unsere Worte abschließend an das kleine Menschenkind, dessen Geschichte wir hier erzählt haben: Du durftest Dein Leben nicht leben und hast die Welt mit Deinen kleinen Füßchen nicht betreten können. Und dennoch hast Du Spuren hier hinterlassen. Sie führen in die Herzen derjenigen, die Deine Geschichte lesen und in die Herzen derjenigen, die sie geschrieben haben. Dort ist ein Platz für Dich, dort darfst Du bleiben, leben, lachen!