Meldungen über schwer vernachlässigte und misshandelte Kinder und über den Staat, der seiner Aufgabe, diese Kinder zu beschützen, nicht hinreichend nachgekommen ist, haben zugenommen. Das vorherrschende Ziel, Kinder so lange wie möglich in ihren Familien zu belassen, wendet sich in vielen Fällen gegen die Kinder.
Hier beginnt die Geschichte von Lydia aus Osnabrück, geboren am 15.Oktober 1993. Ihr Leben endete nach nur sechs Monaten im Mai 1994 in Folge von Herz-Kreislaufversagen durch Auszehrung und Austrocknung.
Lydias Mutter war gerade einmal 17 Jahre alt, als sie das erste Mal 1992 von ihrem Lebensgefährten ungewollt schwanger wurde. Kurze Zeit später verlor dieser seine Arbeit und auch seine Wohnung, sodass beide unter katastrophalen Zuständen eine Zeit lang in einem Zelt lebten. Im 7. Schwangerschaftsmonat wurde beiden durch das Ordnungsamt ein Wohncontainer zugewiesen, bis im September 1992 dann das erste gemeinsame Kind, ein Junge, zur Welt kam. Ab diesem Zeitpunkt gelang der Kindesmutter die Rückkehr in ein halbwegs geordnetes Leben nicht mehr. Dann wurde sie erneut schwanger, mit Lydia und nahm dies mit übergroßer Enttäuschung und Verzweiflung auf.
Als sich die Kindseltern schließlich im Mai 1993 trennten, zog der Vater zu seiner neuen Freundin in die Nachbarschaft. Lydias Mutter blieb im Wohncontainer wohnen und suchte für sich einen Neuanfang. Zu jener Zeit wurde das Jugendamt wegen des Verdachts der Unterversorgung von Lydias Bruder sowie zunehmender Verwahrlosung des Haushaltes, welcher von Verwandten und Freunden der Kindsmutter geschürt worden war, für die junge Familie zuständig. Der Kindsvater äußerte bereits da Bedenken über die Fähigkeit der Mutter zur Führung des Haushaltes und Versorgung von bald zwei Kindern, weshalb das Jugendamt regelmäßigen Kontakt zur Mutter unterhielt. Die Sorge ihrer Mitmenschen ging dann so weit, dass Familie und Freunde während der Entbindung von Lydia im Oktober 1993, die Wohnung der Kindesmutter entrümpelten und aufräumten.
Im Oktober 1993 wurden vom Vater, nach Besuchen bei seinen Kindern, erneut Beschwerden über Verwahrlosung und den schlechten gesundheitlichen Zustand des Sohnes gegenüber dem Jugendamt erhoben und auch, dass die Kindsmutter nicht zur Führung des Haushaltes fähig sei. Der zuständigen Sozialarbeiterin wurde zum Vorwurf gemacht, nicht hart genug durchzugreifen. Tatsächlich sah diese aber die harten Vorwürfe seitens der Familie gegen die Mutter nur vorgeschoben, da jedes Familienmitglied in einem Konflikt mit dieser stand. Anfang 1994 bezogen die Mutter und ihre beiden Kinder eine andere Notunterkunft, lebten in beengten Wohnverhältnissen, wo die Kinder vielfache Konfliktlagen mit Nachbarn miterleben mussten, da sich beispielsweise niemand für die Säuberung der Flure verantwortlich fühlte, die völlig verdreckt waren. Lydias Mutter sah sich gegenüber dem Jugendamt zudem von ihren Kindern zu stark in Anspruch genommen, sodass sie keine Zeit für den Haushalt fand und dieser, ebenso wie die Kinder, verstärkt darunter zu leiden begannen.
Im März 1994 brachte sie Lydia wegen einer Windeldermatitis ins Krankenhaus und beschloss auf eigenen Wunsch, eine sozialpädagogische Familienhilfe in Anspruch zu nehmen, die ihr bei der Organisation des Haushaltes behilflich sein sollte. Der behandelnde Arzt wies das Jugendamt darauf hin, dass täglich mindestens eine zweistündige fachkundige Pflege und Betreuung von Lydia erfolgen müsste. Das Jugendamt setzte daraufhin eine Familienhilfe für die Organisation des Haushaltes ein, die Pflege der Kinder gehörte allerdings nicht zu ihren Aufgaben. Zwischen dem Jugendamt, also der Sozialarbeiterin, und den Kindern gab es daraufhin keinen direkten Kontakt mehr. Eine Gefahr für die Kinder habe allerdings nach Einschätzung vom Jugendamt zu keinem Zeitpunkt bestanden. Die Trennung von Mutter und Kindern habe man vermeiden wollen, gab die Sozialpädagogin später an. Ende März wurde Lydia dann aus dem Krankenhaus entlassen. Das Krankenhauspersonal zeigte der Mutter praktische Übungen betreffend der Versorgung ihres Kindes, wie das richtige Wickeln und die Körperpflege an Lydia. Das Jugendamt machte ihr deutlich, dass eine erneute Gefährdung der Kinder nicht auftreten durfte. Wenige Wochen später gab die Kindsmutter bei einem Gespräch mit der Sozialpädagogin an, sie habe einen neuen Freund und strahlte hierbei Zufriedenheit und Stärke aus. Der weitere Verlauf der Betreuung verlief gut, die Führung des Haushaltes gelang nun besser durch die Unterstützung der Familienhilfe. Bei der späteren Beweisaufnahme wurde aber klar, dass die an Lydias Körper festgestellten Hautschäden in den für das Kind 14 endlos erscheinenden Tagen und Nächten vor ihrem Tod entstanden sein mussten. Dies bedeutete wiederum, dass die Mutter Lydia zunächst wenigstens ordnungsgemäß versorgt haben musste, ehe die Mutter Anfang Mai wegen eines anstehenden Arzttermins der Kinder plötzlich tagelang nicht anzutreffen gewesen sei und die Pflege ihrer Kinder durch wiederkehrende Abwesenheit stark in Mitleidenschaft geraten war.
Am frühen Nachmittag des 07.Mai 1994 starb Lydia. Die Mutter holte noch die Nachbarin zur Hilfe, doch der herbeigerufene Notarzt konnte nur noch den Tod des Mädchens feststellen. Aus dem Mund des Kindes trat Erbrochenes aus, die Windel war extrem mit Kot gefüllt, oberhalb des Kopfes lag eine fast geleerte Babyflasche, von der die Mutter erklärte, dem Kind am späten Vormittag die letzte Nahrung gegeben zu haben, was diese jedoch sofort wieder erbrochen habe.
Die Obduktion des Kindes ergab Herz-Kreislaufversagen in Folge von Auszehrung und Austrocknung als Todesursache. Jegliches Fettgewebe fehlte und das Mädchen hatte unter ausgedehnten Hautdefekten im Genital- sowie Beckenbereich und großen Anteilen am Rücken gelitten. Sie starb mit gerade einmal 3.673 Gramm Körpergewicht.
Gerichtsurteil:
Es ergab sich ein spektakulärer Strafprozess vor dem Amtsgericht Osnabrück, der sich über drei Instanzen erstreckte. Beim Verhör durch die Staatsanwaltschaft gab der Kinderarzt an, Lydia habe bei der Einlieferung ins Krankenhaus nicht nur unter Windeldermatitis sondern auch unter Pilzbefall von den Kniekehlen bis zu den Schulterblättern gelitten, Brechdurchfall gehabt und die Nahrungsaufnahme sei gestört gewesen.
Später im ersten Strafverfahren wurde deutlich, dass die Mutter Lydia aus Überforderung und reiner Hilflosigkeit hatte verhungern lassen. Sie war mit beiden Kindern emotional sehr verbunden gewesen, doch verschiedene Faktoren wie Depressionen und Lähmung hatten der inzwischen 18-jährigen trotz schlechten Gewissens die Versorgung der Kinder nicht möglich gemacht. Nach Aussage der Sozialarbeiterin war der Einsatz der Familienhilfe dringend notwendig gewesen. Die Mutter habe gewusst, wie sie die Arbeiten zu verrichten hatte, waren ihr diese allerdings einmal über den Kopf gewachsen, ignorierte sie diese vollständig und flüchtete lieber zu Nachbarn oder in die Stadt. Dem Sohn konnte sie keine klaren Grenzen setzen, sodass er zum Chaos beitrug. Sie war leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen, geriet schnell in Krisensituationen, die zu Kontaktabbrüchen zu ihren Mitmenschen, in völliger Überforderung, Starrheit, Handlungsunfähigkeit und Vernachlässigung der Kinder geführt hatten.
Es wurde eine Bewährungsstrafe der alleinerziehenden Mutter wegen fahrlässiger Tötung verhängt.
Die wegen „Fahrlässigkeit, die den Tod eines Menschen verursacht hatte“, bedingt durch die Verletzung der ihr obliegenden Garantenpflicht mitangeklagte Sozialarbeiterin wurde ebenfalls zur Bewährung verurteilt. Als Erklärung gab man an, sie habe Dinge zwar erkannt, aber nicht die richtigen Konsequenzen daraus gezogen. Am Schluss habe sie mehr für die Mutter als die Kinder getan.
Im Berufungsverfahren wurde dieses Urteil aber wieder aufgehoben, das Landgericht sprach die Sozialarbeiterin frei und unterstrich dabei, dass sie fachlich korrekt gehandelt habe. Das Oberlandesgericht bestätigte zwar wesentliche Teile des Urteils des Landgerichts, verfügte aber wegen eines Verfahrensfehlers die Teilaufhebung und Rückverweisung an eine andere Kammer des Landgerichts, widersprach aber auch der grundsätzlichen Verneinung der Garantenpflicht. Zu einem abschließenden Urteil kam es nicht mehr, da auf Anregung der Staatsanwaltschaft und mit Zustimmung aller Verfahrensbeteiligten die nun zuständige Kammer des Landgerichts die Einstellung des Verfahrens verfügte.