Das ist die Geschichte der dreijährigen Sandra aus Diepholz. Sie starb im Oktober 1978 im Krankenhaus an schweren Kopfverletzungen.
Sandra und ihr ein Jahr älterer Bruder wuchsen in sehr schwierigen Familienverhältnissen auf. Der Vater war Alkoholiker und ohne dauerhafte Arbeit. Die Mutter verdiente den Lebensunterhalt als Bardame. Beide Kinder wurden oft sich selbst überlassen, mussten die Gewalttätigkeiten und auch den Geschlechtsverkehr ihrer Eltern untereinander miterleben. Sandras Bruder wurde vom Vater geschlagen und zeitweise lebten beide Geschwister bei den Großeltern. All dies hinterließ Spuren bei den Kindern. Sie wurden als „aggressiv und distanzlos“ beschrieben.
Irgendwann wollte sich die Mutter scheiden lassen und nahm Kontakt zum Jugendamt auf, um ihre Kinder vorübergehend anderweitig unterbringen zu lassen. Aufgrund der Verhaltensauffälligkeiten der beiden Geschwister scheiterte die erste Fremdunterbringung in einer Pflegefamilie. Zwei Tage nach der Vermittlung wurden Sandra und ihr Bruder zurückgebracht. Die Pflegemutter kam mit den beiden Kleinkindern nicht zurecht.
Das Jugendamt bemüht sich erneut um eine Pflegefamilie. Es gab nicht viele Paare, die sich dieser Aufgabe annehmen wollten und daher war das Jugendamt erleichtert, über jedes Paar, welches sich hierzu bereit erklärte. Die neuen Pflegeeltern konnten in Folge eines Unfalls der Pflegemutter keine eigenen Kinder bekommen. Der Pflegevater war selbst in einer Pflegefamilie aufgewachsen. Er habe eine gute Zeit in seiner Pflegefamilie gehabt und daher wolle er dies an andere Kinder, die kein Zuhause mehr hatten, weitergeben. Das Paar wollte ursprünglich nur ein Kind aufnehmen, doch das Jugendamt überzeugte die beiden, Sandra und ihren Bruder nicht zu trennen. Die Vorgeschichte der Geschwister verschwieg das Jugendamt. Es war lediglich die Rede davon, dass die Kinder recht lebhaft seien. Wie schwierig die beiden Geschwister waren, kam nicht zur Sprache. Einen Heimaufenthalt wollte das Jugendamt unbedingt vermeiden.
Beide Kinder wurden sodann in ihre neue Pflegefamilie vermittelt. Es verging nur wenig Zeit, bis die Pflegemutter sich hilfesuchend an das Jugendamt wendete. Ihre Pflegetochter Sandra würde unter Angstzuständen leiden. Sie hätte versucht, eine Puppe zu verbrennen und dabei gesagt „Mama ist böse“. Der Bruder würde seine Schwester schlagen und treten und nachts würden beide ausreißen. Sie ersuchte das Jugendamt immer wieder darum, die Geschwister zu trennen und schlug auch vor, beide psychologisch betreuen zu lassen. Die Probleme nahmen zu und wieder kontaktierte die Pflegemutter das Jugendamt. Daraufhin erschienen in den zwei Monaten, in denen die Kinder bei den Pflegeeltern untergebracht waren, drei verschiedene Sozialarbeiter, wohl zur Unterstützung. Insgesamt vier Mal wurde die Pflegefamilie aufgesucht.
Anfang Oktober 1978 zeigte die Pflegemutter einem der Sozialarbeiter eine Wunde auf Sandras Kopf. Die Verletzung begründete sie damit, dass Sandra nachts gegen ein heißes Ofenrohr gelaufen sei. Da das Jugendamt erst ein Vertrauensverhältnis zu den Pflegeeltern aufbauen wollte, wurde die Aussage der Pflegemutter hinsichtlich der Verletzung so hingenommen. Es wurde nicht weiter nachgefragt, die Kinder wurden nicht näher angeschaut, es wurde kein Verdacht geschöpft.
Eine fatale Entscheidung die Sandras Tod zur Folge hatte. Nach nur zwei Monaten in ihrer neuen Pflegefamilie wurde das dreijährige Mädchen bewusstlos in ein Krankenhaus eingeliefert. Ihr kleiner Körper war mit Verletzungen übersät. Unzählige blutige Striemen, ein zerstörtes Trommelfell, eine verkrustete Wunde auf dem Kopf und schwerwiegende Verletzungen im Genitalbereich. Wahrscheinlich wurde Sandra auch Opfer sexuellen Missbrauchs. Sandra starb neun Tage später im Krankenhaus. Als Todesursache wurde „Einwirkung stumpfer Gewalt“ auf ihre rechte Kopfseite benannt.
Danach:
Im Anschluss wurden durch den Kreisverwaltungsdirektor keine Versäumnisse seiner Behörde festgestellt. Die Aussage der Jugendschutzkammer, dass der Pflegefamilie keine adäquate Unterschützung seiner Behörde zur Seite gestellt worden sei, hielt er für ungerechtfertigt. Letztendlich lief nun auch seine Sicht der Dinge auf einen unpassenden Spruch eines Beamten der Aufsichtsbehörde hinaus: „Sie wissen ja, Kinder können einen ganz schön nerven!“
Gerichtsurteil:
Im Dezember 1980 verlas das Landgericht Verden das Urteil. Allein zwei DIN-A4-Seiten waren von Nöten, um die Verletzungen am Körper von Sandra aufzuzählen. Beide Pflegeeltern erhielten wegen Misshandlung einer Schutzbefohlenen eine Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung. Für den Tod von Sandra wurden sie nicht belangt, da nicht nachgewiesen werden konnte, wer von beiden Sandra zu Tode misshandelt hatte. Auch der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs wurde fallengelassen. Die Pflegeeltern hatten angegeben, dass Sandra sich die schweren Verletzungen im Genitalbereich selbst zugefügt habe. Ein Sachverständiger schloss dies zwar gänzlich aus, aber das Gericht glaubte den Ausführungen der Pflegeeltern.